Fünf Sinne haben die Menschen, fünf Berührungspunkte mit der Wirklichkeit: Sie sehen, sie hören, sie schmecken, sie riechen, sie tasten. Bei der schwedischen Zollbeamtin Tina (Eva Melander) ist das Riechen der stärkste Sinn. Wenn die Passagiere von einer Fähre an Land kommen und an ihr vorbeigehen, dann zucken manchmal ihre Nasenflügel, oder ihr Mundwinkel wird leicht unruhig. Dank ihres besonders ausgeprägten Geruchssinns spürt Tina vieles, was Menschen in der Regel lieber verheimlichen. Sie riecht Schuld, Scham, Wut und Angst. Ihre Begabung verleiht Tina eine besondere Identität – und ist zugleich eine Last, denn mit ihr gehen körperliche Fehlbildungen einher. Tina sieht ein wenig aus wie ein verwunschenes Wesen, eine missglückte Fee. Mit solchen Assoziationen ist man bereits tief drinnen in dem Rätselspiel aus Projektionen, zu dem Ali Abbasi mit seinem Film „Border“ einlädt.
Der Titel ist ganz und gar Programm, denn es geht tatsächlich um Grenzen aller Art und um die Frage, welche man überschreiten soll und welche besser nicht. Bei manchen Grenzen wiederum ist das ohne Belang, denn sie sind dem Leben eingeschrieben. Zum Beispiel die zwischen Tier und Mensch. Alle Menschen sind biologisch betrachtet Tiere, und doch geht ihre Existenz über diesen Umstand hinaus. Alle Menschen haben ein Geschlecht, aber die klare Trennung zwischen männlich und weiblich, die man so lange für naturgegeben halten wollte, lässt sich nicht aufrechterhalten. Der Film „Border“ geht an alle diese Grenzen, wie auch an moralische und juristische und wird so zu einem Traktat, der sich die Gestalt eines unheimlichen Märchens gibt.
Sagenhafte Kreaturen
Für Tina ändert sich alles, als sie eines Tages einen Mann zu einer Zollkontrolle herauswinkt, der ihr auf eine merkwürdige Weise ähnlich ist. Er heißt Vore (Eero Milonoff), und die erste Irritation entsteht, als Tinas Kollege nach der Leibesvisitation betreten anmerkt, dass eigentlich Tina sie hätte vornehmen sollen. Denn Vore hat ebenfalls eine ungewöhnliche Anatomie. Vores Identität ist noch auf andere Weise gemischt oder im Übergang – er hat Organe, die ihn nicht so sehr zwischen Mann und Frau verorten, sondern zwischen Menschen und sagenhaften Kreaturen. Mit ihm erlebt Tina zum ersten Mal so etwas wie Gemeinsamkeit. Zugleich hat ihr Geruchssinn sie aber noch auf die Spur eines Kriminalfalls gebracht. Sie geht einem Verdacht auf Kindesmissbrauch nach, für eine Ermittlerin, die bewusst in Kauf nimmt, dass mit Tinas Begabung die Grenzen der herkömmlichen polizeilichen Methoden deutlich überschritten werden.
Mit großem Geschick führt Ali Abbasi alle diese Fäden parallel und schließlich zusammen. Dabei nimmt er stets eine der wichtigsten alltäglichen Grenzen in den Blick: die zwischen einer unterstellten Normalität und abweichendem Verhalten. Wie eine Gesellschaft mit ihren Außenseitern umgeht, ist ein wichtiges Indiz für ihre Zivilität. Dass in den jüngsten Jahren aus Skandinavien immer wieder höchst spannende Filme aus den Genres des Unheimlichen gekommen sind – von „Man tänker sitt“ (2009) bis „The Innocents“ (2021) –, mag auch damit zu tun haben, dass die dortigen Gesellschaften einen besonders anspruchsvollen Versuch unternehmen, größtmögliche individuelle Freiheit mit starker Integration zu verbinden.
Ali Abbasi stammt aus dem Iran, in diesem Mai hat er in Cannes seinen neuen Film „Holy Spider“ präsentiert, in dem er sich mit einer Mordserie in seinem Ursprungsland beschäftigt. Mit „Border“ hat er sich weit von seiner Herkunft entfernt und bezieht sich auf Naturmythologien, die man mit nördlichen Landschaften (Wälder und einsame Seen) assoziiert. Herkunft und Abstammung als trügerisch eindeutige Kategorien stehen im Zentrum seines Films. Eines der spannendsten Motive in „Border“ ist die Geschichte von Tina und ihrem Vater, die Geschichte ihrer biologischen und mythologischen Herkunft. Schritt für Schritt kommt sie da einem Geheimnis näher, das Ali Abbasi wiederum brillant mit dem Märchenmotiv verbindet. Es ist ihr eigenes Geheimnis, für das sie erst einen Sinn entwickeln muss. Denn es führt mitten hinein in die Abgründe einer Identität, die daraus entsteht, dass man sich seiner eigenen Fremdheit bewusst wird. Seiner Grenzen zu sich selbst.
Ich denke, ein Film ist ein Schlag ins Gesicht – und kein Blumenstrauß