Burger, Pommes, Cola light – so sieht der „American Dream“ auf dem Teller aus. Doch neben Genuss bringt die amerikanische Esskultur vor allem eines: Übergewicht. Vier von zehn Erwachsenen in den USA wiegen zu viel oder sind fettleibig. Jährlich sterben dort Hunderttausende Menschen an den Folgeerkrankungen. Ein typisch amerikanisches Problem? Leider nein! Denn: In Deutschland leidet jeder zweite Erwachsene an Übergewicht und jeder vierte an starkem Übergewicht, also Adipositas. Und das hat Folgen, denn ein zu hohes Körpergewicht kann neben Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Gelenkproblemen und Organschäden einen Diabetes Typ 2 verursachen. Barbara Bitzer, Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), warnt: „Bis 2040 erwarten wir in Deutschland bis zu zwölf Millionen Menschen mit Typ-2-
Diabetes. Das ist dramatisch.“
Der Trend zum Übergewicht ist also längst nicht mehr amerikanisch, sondern global. Das zeigt auch der Dokumentarfilm „Dick, dicker, fettes Geld“, den ARTE im April ausstrahlt. Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge haben sich die Zahlen seit 1975 weltweit verdreifacht: 2016 waren mehr als 1,9 Milliarden Erwachsene übergewichtig, Tendenz steigend. Laut Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) führten 2015 im Vergleich aller OECD-Länder die USA, danach Mexiko die Statistik an – inzwischen holt Deutschland kräftig auf. Und: Mit rund sieben Millionen Menschen, die an Diabetes Typ 2 erkrankt sind, belegen wir laut der International Diabetes Federation (IDF) im europäischen Vergleich einen der vordersten Plätze.
Wie aber kann es zu einer solch dramatischen Entwicklung kommen? Denn auch wenn Burger, Pommes und Cola ebenso in Deutschland verzehrt werden, achten Deutsche auf eine gesunde Ernährung. Das zeigt etwa der aktuelle Ernährungsreport, den das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) jährlich veröffentlicht: Demnach essen und kaufen Deutsche immer bewusster ein. 91 Prozent der Befragten ist gesundes Essen wichtig. Laut BMEL wissen Verbraucherinnen und Verbraucher, dass zu viel Zucker und Fette ungesund sind: So sprechen sich 84 Prozent dafür aus, Fertigprodukten weniger Zucker zuzusetzen. Wir wollen uns also gesund ernähren, doch es gelingt uns nicht. Warum?
Studien, von Coca-Cola finanziert
Unstrittig ist, dass Übergewicht entsteht, wenn man mehr Kalorien aufnimmt, als man verbraucht. Ginge es nach den Interessenverbänden der Lebensmittelindustrie, wäre das Problem vor allem mit einem Ansatz zu lösen: Statt der Reduktion von Fett, Salz und Zucker rücken sie das Thema Bewegung ins Visier.
Gegen das Adipositas-Problem der USA startete Michelle Obama vor zehn Jahren die Initiative „Let’s Move!“ für gesünderes Essen in Schulen und mehr Bewegung im Alltag. Doch durch Beratung von Lebensmittelherstellern sei die Kampagne von „besser essen“ zu „bewegt euch“ mit werbewirksamen Tanzvideos geworden, kritisiert Journalist Raj Patel im ARTE-Film. 2015 schuf Coca-Cola das „Global Energy Balance Network“, das mit mehrstelligen Millionensummen Studien förderte, die etwa belegen sollten, dass mangelnde Bewegung der Hauptgrund für Übergewicht sei. Doch Gesundheitsexperten wie Barbara Bitzer verweisen auf unabhängige Studien: „Bewegung ist ein wichtiger Faktor, reicht aber allein nicht aus, um Übergewicht zu verhindern: Wer etwa täglich zwei Gläser Softdrinks trinkt und eine halbe Tafel Schokolade isst, müsste sich sehr viel bewegen, um diese 420 zusätzlichen Kalorien zu verbrauchen.“ Astrid Donalies von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) ergänzt: „Bewegung sollte kein ,Freibrief‘ für vermehrten Zuckerkonsum sein.“
Auch in Deutschland setzen Interessenverbände auf Bewegung und stellen sich trotz zahlreicher Studien gegen den Vorwurf, zu viel Zucker sei für Übergewicht verantwortlich. Zwar weist Sandra Golz von der Wirtschaftlichen Vereinigung Zucker ebenfalls auf die Kalorienbilanz hin. Fügt aber hinzu: „Zucker ist ein Lebensmittel, und es gibt keine guten oder schlechten Lebensmittel.“ Schuld an Übergewicht und Adipositas sei nicht ein einzelner Nährstoff. „Das sagen wir so auch nicht“, verdeutlicht Barbara Bitzer. „Dennoch hat Zucker eine sehr hohe Energiedichte bei geringem Sättigungsgrad und ist daher natürlich hochgradig mitverantwortlich für die Entstehung von Übergewicht.“ Wenn Zucker also zur Gewichtszunahme beiträgt, warum kann die Industrie dann in der Herstellung die Mengen nicht verringern?
Wundermittel der Industrie
Zunächst muss man wissen, dass Lebensmittelhersteller ihren Produkten aus verschiedenen Gründen Zucker zufügen: Neben der Funktion als Geschmacksverstärker erzeugt Zucker Volumen und Textur, zum Beispiel bei Ketchup. Er senkt den Gefrierpunkt bei cremigem Speiseeis und konserviert. Darum stecken in einem 700-Gramm-Glas Rotkohl bis zu 77 Gramm zugesetzter Zucker. Rund zwölf Gramm Zucker sind einem Glas Gewürzgurken beigemischt, einer Dose „leicht gezuckerter“ Ananas geben Hersteller bis zu 88 Gramm hinzu. Der natürlich in Obst enthaltene Zucker ist da noch nicht mit eingerechnet. Ähnlich ist es bei Kraut- und Heringssalaten, Leberwurst, Senf, Dosenerbsen oder Säften. Ein Großteil der Supermarkt-Produkte beinhaltet also zugesetzten Zucker – auch solche, bei denen man es nicht erwarten würde.
Wer sich dazu hin und wieder Softdrinks, Schokolade oder ein Crunchy Müsli gönnt, kommt schnell auf knapp 35 Kilo Zucker im Jahr. So viel verzehrt jeder Deutsche im Schnitt – das sind 98 Gramm pro Tag. Die WHO wiederum empfiehlt, dass sogenannte freie Zucker maximal zehn Prozent der Gesamtenergiezufuhr eines Tages ausmachen sollten – bei 2.000 Kilokalorien wären das höchstens 50 Gramm am Tag, das entspricht immerhin zehn Teelöffeln. Mit „freien Zuckern“ meint die WHO jene Zucker, die Hersteller oder Verbraucher Lebensmitteln zusetzen, sowie Honig, Sirup und die in Fruchtsaftkonzentraten und Säften natürlich vorkommende Fruktose, welche Hersteller ebenfalls zum Süßen nutzen. Die Gesamtzuckermenge ist zwar in der Nährwertkennzeichnung der Packung erfasst, gerechnet auf 100 Gramm. Doch erst die Zutatenliste offenbart zugesetzte Zuckerarten – mit mehr als 60 Bezeichnungen, darunter Maissirup, Maltose, Fruchtsaftkonzentrat oder Dextrose.
Hersteller können zudem selbst definierte Portionsgrößen angeben. Laut Verbraucherschützern liefern diese aber keinen Mehrwert. Und das Max Rubner-Institut (MRI), Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel, bemängelt die prozentuale Angabe des Tagesbedarfs als „irreführend“, da „für Zucker kein wissenschaftlich begründeter Tagesbedarf existiert“.
Viel mehr Zucker in Produkten für Kinder
Um für mehr Klarheit zu sorgen, fordern Verbände und Initiativen ein einheitliches Kennzeichnungssystem auf Lebensmittelverpackungen, das auf einen Blick erkennen lässt, wie gesund ein Produkt ist. Eine Einordnung mit Abstufungen, vom grünen A bis zum roten E, ist der Nutri-Score, den Frankreich und Belgien bereits eingeführt haben. Das Ampelsystem berücksichtigt Salz, gesättigte Fettsäuren, Zucker und Kalorien. Doch die deutsche Politik wehrt sich seit Jahren gegen verpflichtende Kennzeichnungen und weitere effektive Maßnahmen der Adipositas-Vorsorge. „In Sachen Prävention ist Deutschland ein Entwicklungsland“, sagt Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), der die mangelnde Unterstützung für Kinder und Jugendliche kritisiert. Gerade für sie sei die frühe Gewöhnung schlimm. Zwar ist eine „Zuckersucht“ für Menschen nicht belegt, Forscher wiesen aber nach, dass Ratten auf Zucker ähnlich reagieren wie auf Kokain.
Umso fataler, dass in Deutschland jedes siebte Kind übergewichtig ist. „Die Zahlen zeigen, dass wir im Bereich Prävention dringend handeln müssen. Dafür brauchen wir die Politik“, so Barbara Bitzer. Auf Initiative des BVKJ, der DDG und Foodwatch forderten 2018 mehr als 2.000 Ärztinnen und Ärzte in einem offenen Brief von der Bundesregierung Maßnahmen gegen Fehlernährung: etwa eine verständliche Kennzeichnung, steuerliche Anreize für Lebensmittelhersteller und die Beschränkung von Werbung für Kinder, denn deren Lebensmittel enthalten oft viel mehr Zucker, als von der WHO empfohlen – auch Bioprodukte.
Bundesagrarministerin Julia Klöckner (CDU), deren umstrittenes Video mit Deutschlands Nestlé-Chef Marc-Aurel Boersch ihr im letzten Jahr den Vorwurf der Schleichwerbung einbrachte, sprach sich dennoch lange gegen eine „Ernährungspolizei“ aus und setzte auf eine freiwillige Zuckerreduktion der Hersteller bis 2025. Auch wenn sich einige bereit erklärten, ihren Produkten weniger Zucker zuzusetzen, blieben große Erfolge jedoch aus.
Dabei gibt es positive Beispiele, die zeigen, dass der Eingriff des Staates in ernährungspolitische Fragen Erfolge erzielt. Dazu gehören die klare Lebensmittelkennzeichnung in Chile und die Softdrinksteuer in Großbritannien, die bewirkte, dass Hersteller den Zuckergehalt ihrer Getränke binnen zwei Jahren im Schnitt um ein Drittel senkten. Immerhin: Eine repräsentative Studie des BMEL, in der die Mehrheit der Deutschen den Nutri-Score befürwortete, ließ die Bundesministerin inzwischen einlenken. Das Modell soll noch dieses Jahr eingeführt werden, jedoch: freiwillig. Eine Zuckersteuer lehnt Klöckner weiterhin ab. Und: Auf den offenen Brief vor zwei Jahren kam bis heute keine Antwort.
Ein Schelm, wer denkt, beim Thema Ernährung stünden wirtschaftliche Interessen über den Bedürfnissen der Gesellschaft. Denn nicht zuletzt verdient ja auch die Pharmaindustrie mit – am vergeblichen Versuch vieler, abzunehmen.