Stuckverzierte Decken, Gründerzeitmöbel und ein überlebensgroßes Replikat von Gustav Klimts „Der Kuss“: Für das Treffen mit dem ARTE Magazin hat Stefanie Reinsperger ein Kaffeehaus am Prenzlauer Berg ausgesucht, das an die Heimat der österreichischen Schauspielerin erinnert. Seit 2017 lebt sie in Berlin und hat sich dort einen Namen als „größte Kraftschauspielerin an deutschen Bühnen“ (FAZ) gemacht. Kurz vor der Premiere eines neuen Stücks am Berliner Ensemble hat sie sich Zeit genommen, um über die Serie „Haus aus Glas“ zu sprechen, die ARTE im Januar ausstrahlt. Darin wird eine Unternehmerfamilie von einem schmerzhaften Kapitel ihrer Vergangenheit eingeholt – ausgerechnet, als die jüngste Tochter heiraten will. In der Rolle der großen Schwester zeigt sich Reinsperger wütend, verletzlich und gewillt, Fassaden einzureißen: ein bisschen so, wie die Schauspielerin auch im echten Leben tickt.
ARTE Magazin Frau Reinsperger, in „Haus aus Glas“ belastet ein altes Trauma – die Entführung der jüngsten Tochter – eine ganze Familie. Trotzdem spricht niemand darüber. Ist Verdrängung ein klassisches Muster in so einer Situation?
Stefanie Reinsperger Ich selbst habe das zum Glück ganz anders erlebt. Bei mir zu Hause hieß es: Wir gehen nicht im Bösen aufeinander schlafen; es wurde immer über alles geredet. Ich weiß aber, dass das in vielen Familien anders ist. In der Serie spricht niemand über die Entführung – und das Schweigen über die Vergangenheit führt dazu, dass auch über Gegenwärtiges nicht offen geredet wird. Alle fechten ihre eigenen Kämpfe aus, während sie nach außen so tun, als wären sie eine Einheit.
ARTE Magazin Sie spielen Eva Schwarz, die älteste von vier Geschwistern. Welche Rolle übernimmt sie in der Familiendynamik?
Stefanie Reinsperger Eva hatte nie die Chance, ein Kind zu sein. Ab dem Moment, in dem ihre Schwester entführt wurde, musste sie erwachsen werden. Jahre später verspürt sie gegenüber ihren Geschwistern ein großes Unverständnis: Der eine ist nach Kanada ausgewandert, die andere ist mit ihrem Sohn zu den Eltern zurückgezogen. Der Jüngsten, die stark von anderen abhängig ist, sagt Eva: „Mach doch endlich mal selbst!“ Das mag ich an Eva: Sie ist die Einzige, die unbequeme Wahrheiten ausspricht. Nur stößt sie damit in der Familie nicht auf Liebe, sondern auf Ablehnung.
ARTE Magazin Trotz ihrer Stärke tut sie alles, um ihren Eltern zu gefallen. Ein Widerspruch?
Stefanie Reinsperger Sie ist trotzdem liebesbedürftig und von Bestätigung abhängig. Was Eva am meisten braucht, ist, dass ihre Mama sie in den Arm nimmt und sagt: „Du bist genug.“ Aber gerade an der Mutter arbeitet sie sich ab. Also opfert sie sich für das Lebenswerk des Vaters auf – und ist umso verletzter, als er ihr sein Unternehmen nicht übertragen will. Eva fühlt sich als Außenseiterin, die im Porzellanladen sitzt und irgendwann unkontrolliert um sich schlägt.
ARTE Magazin In Ihren Rollen, haben Sie einmal gesagt, fühlen Sie sich oft wohler als im Leben. Woran liegt das?
Stefanie Reinsperger Beim Spielen empfinde ich eine große Freiheit und habe gleichzeitig einen Rahmen. Ich kann meine Rolle über den Abgrund heben und fallen lassen – und im nächsten Moment steht sie auf und macht weiter. Am Schluss gibt es dann einen Abspann oder Applaus. Diese Garantie gibt es sonst nirgendwo. Ich fühle mich im echten Leben ungeschützter. Das ist eigentlich absurd, weil ich beim Schauspielen viel mehr aufmachen muss. Ich nenne das Barzahlen: alles an mich heran- und durch mich hindurchlassen.
ARTE Magazin Gilt das für Film und Bühne gleichermaßen?
Stefanie Reinsperger Im Theater kommt das Publikum hinzu, das mitatmet, auf das man eingehen muss. Ein Stück beginnt – und wird dann chronologisch bis zum Ende durchgespielt. Nichts kann wiederholt werden. Auch nicht, wenn ein Fehler passiert. Da musst du dann durch! Nach einer großen Theaterproduktion bin ich deshalb immer froh, wenn ich wieder drehen kann. Und nach einem langen Dreh bin ich dankbar, wenn ich wieder auf die Bühne darf!
ARTE Magazin 2022 haben Sie Ihr Buch mit dem Titel „Ganz schön wütend“ veröffentlicht. Darin schreiben Sie von Diskriminierung und Übergriffen auf Sie und Ihren Körper, vonseiten des Publikums und im Arbeitskontext. Wann haben Sie entschieden, darüber öffentlich zu sprechen?
Stefanie Reinsperger Der Anfang war sehr schwer – ich habe lange überlegt, wo ich beginnen will und in welcher Form ich über das Thema Bodyshaming schreiben möchte. Ich wollte, dass das Buch persönlich ist, aber nicht privat. Mir ging es nicht darum, meine individuelle Geschichte zu teilen, sondern die Empathielosigkeit und die Selbstverständlichkeit aufzuzeigen, mit der andere ungefragt Beleidigungen und Kommentare zu meinem Körper abgeben. Deshalb schreibe ich von mir selbst als „große blonde Frau mit Dutt“, die mit ihren Erfahrungen stellvertretend für mehrgewichtige Frauen steht. Was ich jahrelang erlebt habe, macht mich wütend. Und ich wollte diese Wut nicht mehr mit mir selbst ausmachen, sondern offen und laut kommunizieren.
ARTE Magazin Sie beschreiben Situationen, in denen Sie Ihrer Wut Luft machen. Wie reagiert Ihr Umfeld darauf?
Stefanie Reinsperger Wütende Frauen kennen wir bis heute wenig – und was der Mensch nicht kennt, ist erst einmal seltsam. Frauen sind über Jahrzehnte damit aufgewachsen, ihre Wut zu unterdrücken, weil das nicht schön aussieht oder nicht damenhaft ist. Ich bin es leid, dass man diejenigen, die laut werden, als hysterisch oder überemotional bezeichnet. Das finde ich unmöglich. Denn wenn ein Mann genau das Gleiche tut, heißt es: „Der ist stark, der haut auf den Tisch!“
ARTE Magazin Es gibt aber durchaus lauten, auch wütenden Feminismus. Ist das nach wie vor ein Randphänomen?
Stefanie Reinsperger Den gibt es, darüber bin ich sehr froh. Und trotzdem ist bis heute nicht bei allen im Bewusstsein angekommen, dass es einen realen Unterschied macht, in welchem Körper man steckt, welche Hautfarbe man hat, wie alt man ist. Die Möglichkeiten, die das Leben bietet, sind nicht für alle gleich. Das müssen wir uns vor Augen führen, darüber sollten wir wütend sein. Es kostet Mut und Kraft, diese Emotionen zuzulassen, aber ich würde uns das gerne gönnen. Weibliche Wut kann so viel bewirken, das zeigt sich auch am derzeitigen Weltgeschehen.
ARTE Magazin Sie meinen Bewegungen wie #Metoo? Dennoch gehören Sexismus und Bodyshaming offenbar zum Alltag – auch innerhalb der Kulturbranche, die auf Humanismus und Diversität setzt. Ist der Wandel reine Fassade?
Stefanie Reinsperger Ich habe das Gefühl, dass die Entscheidungsträger immer noch die gleichen sind. Es ist eine Sache, Diversität auf der Bühne oder vor der Kamera zu zeigen. Ich würde mir aber wünschen, dass auch die Geschichten und Teams diverser sind. So würde automatisch eine größere Bandbreite an Stoffen, Erzählungen und Besetzungen frei. Gerade was mehrgewichtige Menschen angeht, muss noch viel passieren. Ich habe mich wahnsinnig über den Film „The Whale“ geärgert, der alle erdenklichen verletzenden Vorurteile reproduziert. In „Barbie“, der für Feminismus und Körperdiversität steht, gibt es nur schlanke Frauen. Body Positivity mag ein Trend sein, das zeigt sich auch in der Werbung – aber in vielen Fällen ist fraglich, ob die gezeigten Models wirklich „curvy“ sind oder einfach „normal“.
ARTE Magazin Ist die Änderung unserer Sprachgewohnheiten ein Schritt in die richtige Richtung?
Stefanie Reinsperger Ja, weil Wörter eine große Kraft haben. Sie können verletzen – oder beflügeln. Das geht schon beim Gendern los: Solange unsere Sprache so stark männlich konnotiert ist, werden alle anderen ausgeschlossen. Das zu ändern ist eine Umgewöhnung, ein Mehraufwand. Aber dann strengen wir uns eben ein bisschen an!
ARTE Magazin Mittlerweile werden Sensitivity Reader eingesetzt, um Drehbücher und Romane auf diskriminierende Inhalte zu prüfen. Was bedeutet das für die Kunstfreiheit?
Stefanie Reinsperger Das richtige Maß zu finden, ist herausfordernd. Wir befinden uns noch am Anfang dieser Entwicklung – und zugleich an einem extremen Punkt. Momentan kochen so viele Themen hoch, weil diverse Minderheiten zum ersten Mal laut werden. Bei dem Versuch, alles richtig zu machen, zeigt sich fast schon eine Hilflosigkeit. Trotzdem finde ich: Besser so als gar nicht! Ich persönlich möchte in meiner Arbeit keine diskriminierenden Strukturen reproduzieren. Auch für mich – als weiße Person – bedeutet das, dass ich viel lernen muss. Ich wünsche mir eine Welt, in der alle Menschen gleich sind. Vielleicht werde ich das nicht mehr erleben. Aber ich möchte dabei gewesen sein, als wir angefangen haben.
Zur Person
Stefanie Reinsperger, Schauspielerin
1988 in Baden bei Wien geboren, zog Reinsperger nach Engagements am Schauspielhaus Düsseldorf und am Volkstheater sowie am Burgtheater Wien nach Berlin. Mittlerweile steht sie genauso oft vor der Kamera wie auf der Bühne. 2022 erschien ihr Buch „Ganz schön wütend“.
Ich fühle mich im echten Leben viel ungeschützter