Eine Stimme, die sagt, man solle gehorchen. Ein klammes Gefühl, man würde verfolgt. Die stille Angst, allein zu sein. Alles nur Kopfsache? Schizophrenie, Traumata oder Depressionen gelten längst als Volkskrankheiten, so viele leiden darunter. In Deutschland durchlebt mehr als jeder vierte Erwachsene innerhalb eines Jahres eine psychische Störung. Erkrankungen der Psyche sind mittlerweile der dritthäufigste Grund für eine Arbeitsunfähigkeit. Was aber sind die Ursachen für Leiden dieser Art – und welche Rolle spielt das Erbgut?
Auf der Suche nach Behandlungsmethoden rückt verstärkt das Gen in den Fokus der internationalen Forschung. Welche Krankheiten werden überhaupt vererbt? Und wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, eine Depression oder ein Trauma an seine Kinder weiterzugeben? Fragen, die auch Siddhartha Mukherjee beschäftigen. Der indisch-US-amerikanische Schriftsteller, Arzt und Wissenschaftler führt durch die zweiteilige ARTE-Doku „Das Gen“. Vor einigen Jahren nahm Mukherjee die Geschichte seiner Familie zum Anlass, sich mit der Genforschung zu beschäftigen. Heraus kam das Buch „Das Gen: Eine sehr persönliche Geschichte“. Darin erzählt er von den gespaltenen Persönlichkeiten seines Cousins und seiner Onkel. Und über die Erkenntnis seines Vaters, „dass ein Keim dieser Krankheit auch in ihm schlummern könnte wie Giftmüll“.
Ein Gen für Schizophrenie?
Dass körperliche Merkmale wie dunkles Haar oder grüne Augen über Generationen vererbt werden und so im Phänotyp, dem äußeren Erscheinungsbild, zu erkennen sind, ist längst bewiesen. Den Grundstein der Vererbungslehre legte der Augustinermönch Gregor Johann Mendel im 19. Jahrhundert mit Kreuzungsversuchen an Erbsen. Er bewies, dass rezessive, also nicht dominante Merkmale eine Generation überspringen können – bei Menschen gilt das etwa für die Haarfarben Blond oder Rot. Hat eine dunkelhaarige Person im Genotyp, also in der Gesamtheit ihrer Gene, als Erbanlage „Blond“ gespeichert, kann die Haarfarbe der Kinder dunkel sein und in der Enkelgeneration blond. Wie steht es aber um Erkrankungen der Psyche? Werden sie auf dieselbe Weise vererbt? Gibt es ein Gen für Schizophrenie, Depression oder Zwangsstörungen?
Aufschluss über diese Fragen geben Studien, die etwa mit verwandten Probanden durchgeführt wurden. Zwar spielen Umwelteinflüsse für den Ausbruch einer psychischen Erkrankung stets eine Rolle. Doch auch genetische Faktoren sind entscheidend, wie Untersuchungen belegen: Je näher eine Person mit einem an Schizophrenie erkrankten Menschen verwandt ist, desto höher liegt ihr Erkrankungsrisiko – das Potenzial für eine Ausprägung steckt also tatsächlich im Erbgut. Und das gilt nichtn ur für Schizophrenie: Das Marburger Institut für Humangenetik entdeckte, dass Panikstörungen und Depressionen zum Teil auf denselben Genen beruhen. Eine Studie aus Zürich zeigte, dass sich Traumata im Erbgut von Mäusen über vier Generationen ablesen lassen. Und Forscher der Uni North Carolina fanden heraus, dass ein Risiko für Magersucht im Erbgut ablesbar ist – an acht auffälligen DNA-Bereichen.
Heilung durch Gentherapien
Aufbauend auf Mendels Forschung und weiteren Entdeckungen der Genetik wächst weltweit das Verständnis der DNA (Deoxyribonucleic Acid), die als Träger der Erbinformationen fungiert. Den Begriff „Genetik“ verwendete erstmals William Bateson Anfang des 20. Jahrhunderts. James Watson und Francis Crick gelang es 1953, den strukturellen Aufbau der DNA zu entschlüsseln: die Doppelhelix. 1990 wurde das internationale Humangenomprojekt gegründet, mit dem Ziel, das menschliche Genom zu entschlüsseln. 50 Jahre nach der Entdeckung der Doppelhelix gelang dies – auch wenn die Funktionen aller einzelnen Gene bis heute nicht vollständig geklärt sind.
2012 entdeckten Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna die CRISPR/Cas9-Methode: eine Genschere, mit der man gezielt DNA-Sequenzen entfernen und ersetzen kann. Ein Verfahren, das bis dato unheilbaren Erbkrankheiten entgegenwirken könnte: So führte die CRISPR/Cas9-Anwendung bei einer Patientin mit Sichelzellanämie vor Kurzem zu einem Erfolg. Ob die Heilung langfristig bestehen bleibt, muss die laufende Studie noch beweisen.
Mittlerweile sind Tausende Krankheiten bekannt, deren Ursache im Erbgut liegt. Zu ihnen gehören Mukoviszidose, Diabetes und Krebs, aber auch kaum erforschte. Für einige von ihnen werden Stammzellentherapien bereits angewandt. Dass künftig auch für psychische Leiden Gentherapien möglich sein werden, hofft die Wissenschaft. Bisherige Studien weisen aber darauf hin, dass mehrere Erbfaktoren eine psychische Störung begünstigen – und da diese in ihrer Komplexität bis heute nicht entschlüsselt wurden, sind Gentherapien nicht machbar. Noch nicht.
Mukherjee selbst hat sich mit dem Schicksal seiner Familie abgefunden und erzählte seiner jetzigen Frau früh von seinen Verwandten. „Gegenüber einer zukünftigen Partnerin war es nur fair, sie zu warnen“, sagt er. Und hat mit der Künstlerin inzwischen zwei Töchter.