Wenn Ahmad Joudeh tanzt, ist er hochkonzentriert, fast ernst. Sobald sich seine Muskeln anspannen, driftet er ab. „Nur wenn ich tanze, bin ich frei“, sagt er im Interview mit dem ARTE Magazin. Beim Tanzen fühle er sich lebendig und stark, seine Tränen äußere er durch Schweiß, sein Bedürfnis zu schreien durch Sprünge. Wie existenziell Tanz für das Leben des syrischstämmigen Künstlers ist, verdeutlicht sein Tattoo: „Dance or Die“ – „Tanz oder stirb“. So heißt nicht nur seine Autobiografie, sondern auch der preisgekrönte Dokumentarfilm von Roozbeh Kaboly über Joudeh, den ARTE ausstrahlt.
Der Tänzer, der heute in den Niederlanden lebt, hat sich die drei Wörter in Damaskus tätowieren lassen. Auf Hindi – aus Wertschätzung für die indische Kultur, die einen Gott des Tanzes kennt. Der Schriftzug befindet sich hinten an seinem Hals, denn er ist eine Kampfansage an seine Feinde: die Terroristen des „Islamischen Staates“ (IS), die ihn in Syrien einzuschüchtern versuchten. Sie verurteilten sein Hobby als Verstoß gegen die Religion, verlangten, dass er aufhöre, Waisenkindern die sündigen Bewegungen beizubringen. Sie drohten, seinen Traum mit einem Schuss ins Bein zu zerstören, ihn zu enthaupten. Wäre ihnen Letzteres gelungen, hätten sie beim Anlegen des Schwertes auf sein Lebensmotto blicken müssen.
„Jeder hat seinen eigenen Krieg“
Geboren wurde Joudeh 1990 in Damaskus, wo er als Staatenloser die ersten Jahre im palästinensischen Flüchtlingslager Yarmouk aufwuchs. Das Lager war sein Zuhause, dort spielte er und ging zur Schule; die Welt draußen war ihm unbekannt und sollte ihm doch zu seinem Glück verhelfen. Und so durchzieht das Zusammenspiel von Talent und Chance Joudehs Leben wie ein roter Faden. Seinen Weg zum Tanz ebnete eine weitere Begabung – seine beeindruckende Stimme. Ihr verdankte er, dass er als Kind ausgewählt wurde, um auf einer Schulfeier zu singen. Es war das erste Mal, dass der damals Achtjährige das Camp verließ. Noch heute erinnert er sich daran, wie prachtvoll ihm die Gebäude in der syrischen Hauptstadt erschienen. Es war ebenfalls das erste Mal, dass er eine Ballettaufführung sah. Sechs Mädchen tanzten Tschaikowskis „Schwanensee“.
Von dem Moment an war er dem Ballett verfallen. Eine Passion, die er anfangs geheim hielt und die ihm bald Ärger einbrachte. Als sein Vater von dieser in seinen Augen unmännlichen Leidenschaft erfuhr, reagierte er mit Verständnislosigkeit und Wut. Er warf dem Sohn vor, Schande über die Familie zu bringen, schlug ihn, verbrannte dessen Tanzkleidung. Einzig die Mutter hielt zu ihm. „Jeder hat seinen eigenen Krieg. Meiner begann, als ich mich entschloss, Tänzer zu werden“, sagt Joudeh über jene Zeit. Dennoch gelang es ihm schließlich, am Higher Institute of Dramatic Arts in Damaskus zu studieren und aufzutreten, etwa im römischen Theater der antiken Stadt Palmyra. Doch bald erlebte er einen weiteren Krieg: Im seit 2011 tobenden Bürgerkrieg wurde die Unterkunft seiner Familie zerbombt, Angehörige starben und das Weltkulturerbe Palmyra fiel der Zerstörungswut der IS-Miliz zum Opfer.
2016 kam es dann zu einem weiteren schicksalhaften Ereignis, das Joudehs Leben radikal verändern sollte: Er begegnete dem Journalisten Kaboly. Der Niederländer porträtierte Joudeh für eine TV-Reportage, die Grundlage für seinen späteren Dokumentarfilm wurde. Er begleitete ihn, als er, erfüllt von Angst vor dem Militärdienst, in den Trümmern seiner alten Nachbarschaft tanzte und Schüsse im Hintergrund fielen. „Ich habe sonst nichts. Also bleibt mir keine andere Wahl, als zu tanzen“, erklärte Joudeh damals. Seine Geschichte bewegte Ted Brandsen, den künstlerischen Leiter des Dutch National Ballet, so sehr, dass er dem Tänzer mithilfe des „Dance for Peace Fund“ half, aus dem Kriegsgebiet auszufliegen und seinem Ensemble beizutreten.
Seit 2016 lebt Ahmad Joudeh nun in Amsterdam und ist als Künstler und Aktivist international gefragt. Ein Höhepunkt seiner bisherigen Laufbahn war der Auftritt mit einem der weltbesten Balletttänzer: seinem Idol Roberto Bolle. Zudem tanzt er bei UNO-Benefizveranstaltungen und engagiert sich für die SOS-Kinderdörfer. Auch syrische Nachwuchstänzer unterstützt er und hofft, dass Männer, die Ballett ausüben, eines Tages im arabischen Kulturraum von jedem respektiert werden. „Schießen lernt man in einer Woche, ein professioneller Ballettänzer zu werden, dauert Jahre.“ Pläne hat er viele, auch wenn die Corona-Pandemie sie teils auf Eis gelegt hat. So würde er gerne als Choreograf Projekte verwirklichen, die klassische und arabische Elemente vereinen. Der staatenlose Junge hat es von einem Flüchtlingslager in Damaskus auf die Bühnen der Welt geschafft. Was sein sehnlichster Wunsch ist, jetzt, da er bereits mit Bolle getanzt hat? Die Rückkehr ins Theater von Palmyra – mit seinem eigenen Ensemble.
Um schießen zu lernen, braucht man eine Woche. Um Ballett zu tanzen, Jahre