Egal, ob in Berlin, Schwerin oder Oberstdorf – verbringt man einen Tag im Schwimmbad, sind sie nicht zu übersehen. Vom ausgeblichenen Tribal auf dem Oberarm über Blumenranken am Hals, extra kindlich-naiv gezeichneten Sonnenuntergängen bis zu den aktuell hippen, filigranen geometrischen Formen – Tattoos schmücken junge und alte Körper. Die Hautverzierungen haben in den zurückliegenden 40 Jahren einen rapiden Imagewandel durchgemacht. Noch in den 1980ern wurden sie in Europa vor allem mit Randgruppen in Verbindung gebracht. Die Klassiker: Seeleute und Strafgefangene. Auch Künstler und Punks trugen Tattoos, um sich von der Gesellschaft und deren Werten abzugrenzen. Spätestens seit den 1990er Jahren sind Tätowierungen jedoch in der Mitte der Gesellschaft angekommen: In Deutschland ist mittlerweile jeder Fünfte tätowiert – Tendenz steigend.
Warum aber lassen sich so viele Menschen in einer schmerzhaften Prozedur Farbstoffe in die Haut stechen? Zu dieser Frage forscht der Neuropsychologe Erich Kasten an der Medical School Hamburg. Er untersucht die individuellen Beweggründe hinter den Tattoos und wie sich der Körperschmuck auf das Selbstwertgefühl auswirkt. Das Ergebnis: „Die offensichtlichste Erklärung ist der Trend zur Verschönerung des eigenen Körpers“, sagt Kasten im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Zudem stellten die Bilder auf der Haut eine Form der nonverbalen Kommunikation dar: „Die Menschen wollen damit ihre Persönlichkeit ausdrücken.“ Konkrete Charaktermerkmale lassen sich laut dem Psychologen allerdings selten ableiten. Die Interpretation der Bilder sei vielmehr eine ähnlich individuelle Angelegenheit wie etwa die Traumdeutung: „Ein Totenschädel auf dem Oberarm kann ein Zeichen für Gewaltbereitschaft sein, aber auch an die Endlichkeit des Lebens erinnern und dazu motivieren, jeden Tag sinnvoll zu nutzen“, sagt Erich Kasten. Tattoo-Motive könnten ebenso eigene Wünsche repräsentieren: Manche Menschen versuchten sich mit dem Abbild von Löwen, Panthern und anderen Raubtieren eine Art schützenden, permanenten Begleiter zu kreieren, so Kasten. Andere nutzten ihren Körper als eine Art lebendiges Notizbuch, in dem sie besonders wichtige Erinnerungen verewigen: etwa mit sogenannten Trauer-Tattoos, die Namen oder Geburtsdaten von Verstorbenen festhalten.
MODERNE MUTPROBEN
Eine weitere Erkenntnis von Erich Kasten, der neben der Forschung in seiner Praxis auch direkt mit Patienten arbeitet: Tattoos können im Kontext von psychischen Erkrankungen eine besondere Rolle spielen. In diesen Fällen seien Tätowierungen oft Ausdruck traumatischer Erlebnisse oder unbewältigter seelischer Konflikte. Über die pathologischen Gründe, sich tätowieren zu lassen, hält der Wissenschaftler regelmäßig Vorträge. Grundsätzlich gebe es aber zahlreiche Hinweise, dass sich der Körperschmuck positiv auf die seelische Gesundheit auswirken kann, betont Kasten. In Studien hätten Tattoo-Träger, insbesondere Heranwachsende, nach dem Stechen über ein deutlich höheres Selbstwertgefühl berichtet und sich attraktiver und besser in ihre Freundeskreise integriert gefühlt. Laut dem Experten markieren Tattoos auch bei indigenen Völkern den Übergang in die Erwachsenenwelt – heute wie vor Hunderten von Jahren. „Eine ähnliche rituelle Funktion haben die Motive für Heranwachsende in unserer Gesellschaft – man könnte den Gang ins Tattoo-Studio als moderne Mutprobe bezeichnen“, sagt er. Auch für Menschen mit Angststörungen oder Depressionen könnte die Körperkunst deshalb wie eine Art Selbsttherapie wirken: allein durch die Erfahrung, sich etwas zu trauen und über sich hinauszuwachsen. In schnelllebigen Zeiten stünden die Bilder auf der Haut zudem für etwas Beständiges, etwas, das bleibt.
ZUTIEFST KONSERVATIV
Ähnliche Erklärungsansätze finden sich auch in Soziologie und Popkultur. So schreibt V. Vale, Herausgeber des wegweisenden Körperkunst-Bildbandes „Modern Primitives“ (1989), auf die Frage, warum Tattoos ab den 1990er Jahren zum Massenphänomen wurden, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten „ein universelles Gefühl der Machtlosigkeit“ ausgebreitet habe. Die Menschen hätten sich damit arrangiert, dass es unmöglich ist, die Welt wirklich zu verändern. „Aus diesem Grund entschieden sich viele dazu, eben das zu verändern, worüber sie selbst noch Macht besaßen: ihre eigenen Körper.“
Auch der Kommunikationswissenschaftler und Soziologe Oliver Bidlo hat für sein Fachbuch „Tattoo – Die Einschreibung des Anderen“ (2011) mit einer Vielzahl Tätowierter über die Bedeutung ihrer Motive gesprochen – und dabei festgestellt: In den meisten Fällen wollten die Träger „etwas festhalten“, etwa eine große Liebe, eine Überzeugung oder eine Sichtweise auf die Welt. In unsteten Zeiten, in denen sich Lebensrealitäten immer schneller verändern, fungiere das Tattoo wie eine Art Anker. Deswegen sei der Akt des Sich-Tätowieren-Lassens eigentlich ein zutiefst konservativer, bilanzierte Bidlo in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur: Er stünde für den Versuch, zumindest in diesem einen Lebensbereich etwas Vertrautes zu bewahren. Auch der Psychologe Erich Kasten vergleicht die Entscheidung für ein Tattoo mit der Entscheidung für einen Ehepartner – mit dem Unterschied, dass „diesen Bund fürs Leben auch kein Familiengericht mehr lösen kann“.
Falls die Liebe doch vergeht, bleibt wohl nur der Gang zum Hautarzt: 11 bis 22 Prozent aller Tattoo-Träger bereuen die Bilder auf ihrer Haut. Dies hat das Meinungsforschungsinstitut Norstat kürzlich ermittelt. Sei es, weil ein Tattoo an eine längst verflossene Liebe erinnert, weil längst abgenutzte Trends – wie etwa das „Arschgeweih“ – sich als Geschmacksentgleisung entpuppten oder die Befragten ihre gewählten Motive auf alternder Haut nicht mehr schön finden. Immer neue Technologien werden erprobt, um die unerwünschten Farbpigmente unter der Haut wieder zu entfernen. Bislang sind die Prozeduren, überwiegend Laser-Behandlungen, jedoch aufwendig, teuer und risikoreich. Sollte sich das bald ändern, sei es gut möglich, so Erich Kasten, dass das Entfernen von Tattoos in einigen Jahren ein äußerst nachgefragtes Geschäftsmodell wird.
»Ich bin ein Übersetzer«
Die älteste Tätowierstube Deutschlands öffnete 1946 auf St. Pauli in Hamburg: Zu den ersten Kunden gehörten viele Matrosen und Soldaten. Heute lassen sich dort überwiegend Stammkunden, aber auch Partytouristen aus aller Welt tätowieren. Sebastian Makowski führt das Studio auf der Reeperbahn seit 2019.
ARTE Magazin Herr Makowski, Sie arbeiten seit 23 Jahren in Ihrem Beruf. Was fasziniert Sie bis heute am Tätowieren?
Sebastian Makowski Ich bin ein gelernter Gärtner, der Landschaftsarchitektur studieren wollte, um etwas Bleibendes zu kreieren. Nun, das mit dem Studium hat nicht geklappt. Dafür habe ich das Tätowieren entdeckt. In dem Beruf braucht man ein Händchen für Menschen, oft muss man vage Ideen und Erlebnisse in Bilder übersetzen können. Interessanterweise wählen die Leute sonst nämlich oft für die tiefgründigsten Botschaften die banalsten Symbole. Sie wollen die Liebe zu ihrer Mutter ausdrücken und lassen sich dafür deren Geburtsdatum stechen.
ARTE Magazin Haben sich die Wünsche Ihrer Kunden über die Zeit verändert?
Sebastian Makowski Die Motive unterliegen natürlich Modeströmungen. In den 1990er Jahren waren Tribals über dem Steißbein beliebt. Danach folgten fernöstliche Schriftzeichen. Zurzeit sind Mikro-Tattoos angesagt, wie man sie viel auf TikTok sieht. Sie werden sehr klein und filigran gestochen. Schriftzüge sind ebenfalls beliebt, sehen aber schnell grottig aus. Zunehmend sieht man auch große Motive mit 3D-Wirkung.
ARTE Magazin Haben Sie schon mal jemandem von einem Tattoo abgeraten?
Sebastian Makowski Kunden, die ihr erstes Tattoo gleich im Sichtbereich, also auf den Händen, am Hals oder den Unterarmen, haben wollen, versuche ich sanft umzustimmen. Die wissen oft nicht, worauf sie sich einlassen, und sind dann schnell unzufrieden, wenn negative Reaktionen ihrer Freunde kommen. Auch bei politischen Botschaften bin ich vorsichtig, egal aus welcher Richtung. Und dass Nazisprüche hier bei uns absolut tabu sind, ist eh klar.