IHR LEBEN, EIN TANZ

PORTRÄT Mit Powerstimme, Minirock und High Heels wurde Tina Turner zur Pop-Ikone – und zum Vorbild für selbstbestimmte Frauen.

Foto: Jack Robinson/Hulton Archive/Getty Images

Wie von einer unsichtbaren Macht gezogen, gleitet sie über die Bühne, stampft in Hochgeschwindigkeit in ihren High Heels mit winzigen Schritten auf, bewegt sich erst zur einen, dann wieder zur anderen Seite. Jedes Mal, wenn sie die Richtung ändert, kickt sie mit dem Bein in die Luft, als ob sie eine Tür eintreten würde, während sie den Kopf schüttelt, mit den Armen rudert, Brust raus, Schultern zurück und wieder von vorn. „Pony“ hat ­Tina ­Turner diesen von ihr erfundenen Tanz genannt, mit dem sie nebenbei das Wunder vollbrachte, scheinbar an zwei Orten zu sein. Einerseits stand sie als Sängerin vorn im Rampenlicht und war andererseits ihre eigene Backup-Tänzerin, die mit ihren anderen Backup-Tänzerinnen mal zu einer Einheit verschmolz, um sich dann wieder aus ihr zu lösen, ganz nach Bedarf.

Fünf Jahrzehnte lang hat ­Turner auf diese Weise die Gesetze der Physik infrage gestellt, vom Anfang der 1960er Jahre bis zum 5. Mai 2009, als sie sich mit einem Konzert im nord­englischen Sheffield im Alter von 69 Jahren von der Bühne verabschiedete. Sie hat unglaubliche Erfolge gefeiert, ist in tiefe Krisen gestürzt, hat sich abgestrampelt, Hürden überwunden, sich neu erfunden und immer weitergemacht. Fast scheint es, als wäre der „Pony“ nicht nur ­Turners typischer Tanz, sondern auch ein Sinnbild für ihr Leben.

DIE SENDUNG AUF ARTE

Das Porträt „Tina Turner: One of the Living“ gibt es am Freitag, 6.3. ab 22:05 Uhr auf ARTE und bis 12.3. in der Mediathek.

Fünf Jahrzehnte lang hat ­Turner auf diese Weise die Gesetze der Physik infrage gestellt, vom Anfang der 1960er Jahre bis zum 5. Mai 2009, als sie sich mit einem Konzert im nord­englischen Sheffield im Alter von 69 Jahren von der Bühne verabschiedete. Sie hat unglaubliche Erfolge gefeiert, ist in tiefe Krisen gestürzt, hat sich abgestrampelt, Hürden überwunden, sich neu erfunden und immer weitergemacht. Fast scheint es, als wäre der „Pony“ nicht nur ­Turners typischer Tanz, sondern auch ein Sinnbild für ihr Leben.

Nun steht sie bereits seit elf Jahren nicht mehr auf der Bühne – präsent in der Popkultur ist ­Tina ­Turner­ aber bis heute. So gilt sie vielen Künstlerinnen – darunter Weltstars wie ­Rihanna und ­Beyoncé – als Vorbild in Sachen Emanzipation und Durchsetzungswillen. 2018 erschien ­Tina ­Turners Autobiografie „My Love Story“, die Regisseurin ­Schyda ­Vasseghi hat die Dokumentation „­Tina ­Turner – One of the Living“ gedreht, die ARTE im März zeigt, während eine Reihe von Stellvertreterinnen in der Show „­Tina – The ­Tina ­Turner Musical“ in London, Hamburg, Utrecht und New York dem Publikum ­Turners Geschichte erzählen. Selbstverständlich trug sie höchstpersönlich dafür Sorge, dass jede von ihnen den „Pony“ beherrscht.

Turner kam am 26. November 1939 als Anna Mae ­Bullock in Nutbush, Tennessee, zur Welt. Ein Ort, über den sie später ihren Hit „Nutbush City Limits“ schreiben sollte – obwohl die kleine Siedlung weit davon entfernt war, auch nur ansatzweise als Stadt zu gelten. Bis heute zählt sie nur ein paar Hundert Einwohner. „Kirche, Kneipe / Schule, Außenklo“, heißt es übersetzt in dem Song; „Wochentags gehst du auf die Felder / An Feiertagen machst du Picknick / Am Samstag gehst du in die Stadt / Aber jeden Sonntag in die Kirche.“ Die Kindheit verlief nicht glücklich. Die Eltern hassten einander und die Mutter hatte wiederum nicht viel für ihre Kinder übrig. Im Vergleich zu ihrer älteren Schwester ­Alline hielt ­Anna Mae sich sogar für besonders ungeliebt und ließ sich ihr dumpfes Gefühl in den 1980er Jahren von einer Seherin bestätigen: „Sie waren kein Wunschkind“, soll die Frau laut ­Turners Autobiografie „My Love Story“ zu ihr gesagt haben, „das wussten Sie schon im Mutterleib.“ Da sie außerdem an einer Lernstörung litt und Probleme mit dem Lesen, Schreiben und Rechnen hatte, gestaltete sich die Schulzeit als Tortur. Der einzige Lichtblick in ihren jungen Jahren: Musik.

DIE SENDUNG AUF ARTE

Das Konzert „Tina Turner: Live in Holland“ gibt es am Freitag, 6.3. ab 22.55 Uhr auf ARTE und bis 3.6. in der Mediathek.

Foto: Fin Costello/Redferns/Getty Images

Ike Turner: Nach der Hochzeit ins Bordell

Sie sang, sie tanzte und sie war 17 Jahre alt, als Ike ­Turner in ihr Leben trat. Sie fand ihn hässlich und er fand sie uninteressant. Bevor sie und ihr zukünftiger Ehemann sich näher­kamen, wurde sie zunächst von einem gewissen ­Raymond Hill schwanger, dem gut aussehenden Saxofonisten in Ike ­Turners Band. Als allerdings das Kind zur Welt kam, verschwand Hill einfach. Sie war 18 und blieb mit dem Kind zurück; der Autobiografie zufolge nahm sie es einigermaßen gelassen hin. Sie beschwerte sich auch nicht, als Ike ­Turner, da waren sie noch kein Ehepaar, ihr den Künstlernamen ­Tina ­Turner verpasste und ihn als Markennamen eintragen ließ. Als er sie wie nebenbei fragte, ob sie nicht vielleicht seine Frau werden wolle, wusste sie bereits von seinen unzähligen Affären. Eigentlich wollte sie ihn auch gar nicht heiraten, sagte dann aber doch „Ja“. Die Ehe wurde in der mexikanischen Grenzstadt Tijuana geschlossen. Am Abend der Hochzeit nahm der Bräutigam seine junge Braut mit in ein Bordell. Danach ging’s bergab.

Es fällt schwer, die erfolgreiche Bühnenfigur ­Tina ­Turner mit der von Problemen geplagten Privatperson, von der sie in ihrem Buch erzählt, in Einklang zu bringen. In ihren 20ern wurde sie zum Weltstar, während ihr Mann sie hinter den Kulissen misshandelte, inklusive Kieferbruch und blauem Auge. In ihren 30ern befreite sie sich mit nur 36 Cents in der Tasche aus der Hölle ihrer Ehe und verlor bis auf ihren Namen alles. Mit Mitte 40 gelang ihr dann eines der unwahrscheinlichsten Comebacks der Popgeschichte, das alles, was sie bislang an Ruhm erreicht hatte, in den Schatten stellen sollte.

Macht ­Tina ­Turner das nun zu einem Opfer, das ihr Schicksal in der zweiten Lebenshälfte noch einmal herumreißen konnte? Oder zu einer Vorkämpferin der Emanzipation, die in der ersten Lebenshälfte einfach Pech hatte? Wie bei jedem Popstar lässt sich ihre Geschichte je nach Blickwinkel einordnen, doch wie sie der New York Times im vergangenen Jahr erzählte, identifiziert sie sich mit keiner der gängigen Interpretationen. „Ich identifiziere mich nur mit meinem eigenen Leben“, sagte sie. „Ich war damit beschäftigt, es zu führen. Ich habe die Arbeit erledigt.“ Wer wollte ihr da widersprechen?

Und während sie die Arbeit erledigte, drückte sie selbst in finstersten Zeiten der Popkultur einen Stempel auf. ­Ike ­Turner war zwar ein Pionier des Rock ’n’ Roll, ein großartiger Gitarrist und sogar ein noch besserer Band­leader, aber die Ike & ­Tina ­Turner Revue war in erster Linie ­Tinas Show und als solche ein ganz und gar unvergleichliches Spektakel. Sie verstand es, Soul, Rock und Blues zu einem wüsten Durcheinander zu kombinieren; nahm einen Song wie „Proud Mary“ von Creedence Clearwater Revival, erkannte sein theatralisches Potenzial und dehnte ihn auf die doppelte Länge, nicht ohne dem Publikum vorher im Intro zu erklären, dass man jetzt erst mal langsam anfange, um dann später richtig auf die Tube zu drücken. Und genau dies tat sie dann auch.

Bei dem Song „Nutbush City Limits“, den ­Tina ­Turner 1973 schrieb, lässt sich auch knapp 47 Jahre später nicht mit letzter Sicherheit sagen, um was es sich da eigentlich handelt. Klang er nicht irgendwie nach Glam Rock oder war der stumpf-­sture Schlagzeugbeat sogar die Vorwegnahme von AC/DC? Wo kam diese herrlich dissonante Stimme her, mit der ­Tina ­Turner die betörende Ödnis ihres Heimatdorfs besingt? Und was hat eigentlich die Sirene zu bedeuten, die sich plötzlich so nervenzerfetzend über das Arrangement legt?

In den USA nur eine Sängerin – in Europa ein Star

Es war im Grunde keine Überraschung, dass Turner sich für ihre Solokarriere musikalisch fast komplett vom Funk und Rhythm & Blues verabschiedete. Für ihre erste Comeback-­Single „Ball of Confusion“ von 1982 wählte sie zwar einen Song der ­Temptations, doch der klang in ihrer Version so elektronisch und maschinell, dass selbst die große Tänzerin ­Tina ­Turner nicht so recht wusste, wie sie sich dazu nun bewegen sollte. Wirklich überraschend ist vielmehr, dass ­Turner erst die USA verlassen musste, um als Solokünstlerin überhaupt eine Chance zu bekommen. In Amerika habe man sie einfach nur als eine afro­amerikanische Sängerin gesehen, sagt sie in der neuen Dokumentation. In Europa war sie ein Star.

Also bediente sie sich für ihr gefeiertes Comeback-­Album ­„Private Dancer“ an allen denkbaren Bereichen. Den Titelsong lieferte der Dire-Straits-Sänger Mark ­Knopfler, der das Lied ursprünglich für seine eigene Band haben wollte; dann kam er jedoch zu dem Schluss, dass es für ihn doch keine gute Idee sei, aus der Perspektive einer Stripperin zu singen. „Help!“ von den ­Beatles wird bei ­Turner zu einer Gospelnummer, ­­­Al Greens Klassiker „Let’s Stay Together“ klingt plötzlich wie ein Stück Segelyacht-­Synthiepop, in „Steel Claw“ quietschen zwischendurch die Gitarren, ihre Version von ­David ­Bowies „1984“ klingt mehr nach den 1980ern als alles andere und mit „What’s Love Got to Do with It?“ kommt aus der Ferne ein Hauch Reggae angeweht. All das wird zusammengehalten von ­Turners Gesang, ihrer Art, mit der Stimme einzutauchen, auszuweichen, zu verzögern und den Raum zu nutzen wie ein mehrstöckiges Gebäude. Natürlich schadet es nicht, dass sich jedes Lied wie ein Kommentar zu ihrer Lebensgeschichte lesen lässt.

Kaum ist der Erfolg zurück, sieht man sie 1985 in „Mad Max – Jenseits der Donnerkuppel“ als Aunty Entity, die rücksichtslose Herrscherin von Bartertown, wo zwar Öl und Wasser knapp sind, aber Haarspray in rauen Mengen zur Verfügung steht. Natürlich machte es auch Sinn, sie den Titelsong „We Don’t Need Another Hero“ singen zu lassen, der zwar stimmungsvoll, aber ein wenig vergeblich versuchte, sich auf die gänzlich unverständliche Handlung des Films einen Reim zu machen. Zehn Jahre später verpflichtete man sie dann, den von U2 erdachten Titelsong für „­James Bond 007 – Goldeneye“ zu singen. 1999 veröffentlichte sie mit „Twenty Four Seven“ ihr letztes Studioalbum.

Heute lebt Turner zurückgezogen in Küsnacht in der Schweiz und freut sich, dass sie nicht mehr ständig singen und tanzen muss. Ihr Einfluss ist hingegen überall zu sehen, allen voran bei ­Beyoncé, einer ihrer größten Fans. Man sieht ihn in den Bewegungen ­Rihannas, im Bühnengebaren von ­Cardi B. Ob sie auch den „Pony“ beherrschen, ist natürlich eine ganz andere Frage.

»I wanna make a million dollars / I wanna live out by the sea«
Tina Turner in ihrem Hit „Private Dancer“