Sie wirken bedrohlich – und sie werden immer mehr. Wie ein schlechtes Omen flattern überall dort Krähen, wo Melanie (Tippi Hedren) sich aufhält. Das pechschwarze Federvieh verfolgt die anmutig-kühle Blondine wie ein Schatten, lauert ihr auf wie ein Stalker, umkreist sie wie ein Jäger seine Beute. Anfangs irritiert, reagiert sie zunehmend ängstlich – und erliegt zum Ende des Films der nackten Panik, als die Vögel sich zu Hunderten auf sie stürzen.
Bis heute hat Alfred Hitchcocks Horror-Klassiker „Die Vögel“ (1963) nichts von seiner Faszination eingebüßt. Nachdem der Regisseur in der ihm ureigenen Manier einen perfekten Spannungsbogen aufgebaut hat – das Publikum erahnt das drohende Unheil stets, bevor es die Protagonisten trifft –, gelingt es ihm am Ende des Films, das kalte Grausen der Protagonistin auf das Publikum zu übertragen. Als der Film in den 1960er Jahren in den Kinos lief, verließen Zuschauende auf der ganzen Welt reihenweise die Kinosäle.
Auch für die Hauptdarstellerin war die Schlussszene eine Tortur: Anders als besprochen, setzte Hitchcock keine mechanischen Vögel ein, sondern ließ Tippi Hedren von echten Krähen attackieren. Er ließ die Tiere mit Nylonfäden an ihre Gliedmaßen binden und engagierte Vogeltrainer, die Hunderte Krähen auf Hedren losließen. Als sie nach fünf Drehtagen vor der Kamera kollabierte, war die Szene im Kasten und der Meister zufrieden. Das ehemalige Model aus New Ulm in Minnesota, das er in einem TV-Spot für Diät-Drinks entdeckt hatte, erhielt den Golden Globe als Beste Nachwuchsschauspielerin – und löste Grace Kelly („Das Fenster zum Hof“, 1954) als Hitchcocks Muse ab. Ein Jahr später engagierte der oft als „Master of Suspense“ bezeichnete Filmemacher die 33-Jährige erneut. In dem Thriller „Marnie“ (1964) verkörperte Hedren eine bildschöne Kleptomanin, die – nach außen cool, im Innern gebrochen – in die Gewalt eines obsessiven Liebhabers gerät.
SEXUELLER MISSBRAUCH – UND ALLE SCHWEIGEN
Nachdem der Regisseur Hedren mit nur zwei Filmen zur gefragten Hollywood-Diva gemacht hatte, fand ihre Zusammenarbeit nach „Marnie“ ein abruptes Ende. Den Grund dafür offenbarte Hedren erst 32 Jahre nach Hitchcocks Tod. In einem Interview mit der New York Times berichtete sie 2012, Hitchcock habe sie nicht nur vor der Kamera gequält, sondern ihr hinter den Kulissen nachgestellt, sie vom restlichen Filmteam isoliert und gegen ihren Willen angefasst. „Es war sexuell, pervers und hässlich“, schreibt Hedren in ihrer Autobiografie, die 2018 erschien. Schon damals hätte es Mitwissende gegeben, darunter auch Hitchcocks Ehefrau Alma, aber: „Dem Meister ließ man alles durchgehen.“ Sexuelle Belästigung sei in den 1960er Jahren noch kein öffentliches Thema gewesen, schon gar nicht im Filmgeschäft. Doch Hedren wehrte sich.
Obwohl Hitchcock damit drohte, ihre Karriere zu ruinieren, blockte sie seine Übergriffe ab und beendete die Zusammenarbeit. Weil sie einen Exklusivvertrag mit ihm unterschrieben hatte, konnte er zwei weitere Jahre über sie verfügen – und lehnte alle Anfragen anderer Filmemacher ab, darunter ein Angebot von François Truffaut für die Hauptrolle in „Fahrenheit 451“ (1966). Auch eine Oscar-Nominierung soll der Regisseur verhindert haben.
„Wenn ich heute an Hitchcock denke, empfinde ich Bewunderung, Dankbarkeit und Abscheu“, resümiert Hedren in der ARTE-Dokumentation, die auf das Leben der 92-Jährigen blickt. Nach dem Bruch mit ihrem Mentor und der Zwangspause gelang ihr zwar kein großer Filmauftritt mehr. Dennoch hat sie in Hollywood noch einmal Aufsehen erregt: Die öffentlich erhobenen Missbrauchsvorwürfe gegen den einflussreichen Regisseur machten Hedren zu einer frühen Vertreterin von #MeToo – bevor die Enthüllungen um Produzent Harvey Weinstein 2017 eine weltweite Debatte über sexualisierte Gewalt auslösten. Hedren lebt seit Längerem auf ihrem eigenen Reservat bei Los Angeles – mit 50 Löwen, Tigern und Leoparden, die sie aus Zirkussen und Zoos gerettet hat. Ihre Tochter Melanie Griffith und ihre Enkelin Dakota Johnson arbeiten erfolgreich als Schauspielerinnen. Hitchcock habe vielleicht ihre Karriere ruiniert, sagt Hedren, „aber nicht mein Leben!“