Das Albertinum in Dresden und die Tretjakow-Galerie in Moskau stellen in einer gemeinsamen Ausstellung erstmalig russische und deutsche Romantiker gegenüber. Aus diesem Anlass widmet ARTE der Epoche und ihren Künstlern im Oktober zwei Dokumentationen. Was die Bewegung aus dem 18. und 19. Jahrhundert heute aktuell macht, erklärt Albertinum-Kurator Holger Birkholz.
arte magazin Herr Birkholz, Deutsche und Russen bekriegten und versöhnten sich zur Zeit der Romantik. Was verbindet die Künstler jener Jahre?
Holger Birkholz Auf den ersten Blick lassen sich deutsche und russische Werke oft kaum unterscheiden. Themenkomplexe wie Nachtlandschaften, Interieurs oder die Italien-Sehnsucht vereinen die Romantiker. Alexej Gawrilowitsch Wenezianows Werk etwa, das von einer Ruhe geprägt ist, von großen Farbflächen, die die Unbegrenztheit der russischen Landschaft zum Ausdruck bringen, lässt sich unmittelbar mit Caspar David Friedrich vergleichen.
arte magazin Auf welche Narrative der Romantik haben Sie sich bei der Konzeption der Ausstellung fokussiert?
Holger Birkholz Wir stellen keine Orte der Geborgenheit, der angenehmen Gefühle vor. Die aus der Französischen Revolution hervorgehende Romantik lässt sich als Zeit der starken Widersprüche verstehen. Die Gesellschaft war gespalten, es gab viele politische Konflikte. Uns war wichtig, die Werke zu kontextualisieren. Die verwobene Symbolik von Politik, Religion und Gefühl macht die Romantik auch heute noch spannend. Außerdem schlagen wir Brücken zu anderen künstlerischen Gattungen und zeigen Objekte wie den Dirigierstab von Carl Maria von Weber. Wir wollen verdeutlichen, dass die Romantik eine Bewegung ist, die sich nicht auf die Malerei beschränkt. Der Frühromantiker Friedrich Schlegel nennt es „progressive Universalpoesie“, eine Form des übergreifenden Zusammenwirkens von Künstlern.
arte magazin Das Wort „romantisch“ wird heute geradezu inflationär gebraucht. Wie kommt es, dass die Gefühlsbetontheit des 18. und 19. Jahrhunderts immer noch aktuell wirkt?
Holger Birkholz Die damaligen Werke sprechen aufgrund ihres Gefühlsgehaltes und ihrer existenziellen Dimensionen immer noch sehr unmittelbar zu vielen Betrachtern und Betrachterinnen. Ich glaube, dass schon in der Romantik das Wort inflationär gebraucht wurde. Es gibt einen Unterschied zwischen einer landläufigen Romantik und ihrem Verständnis in der Kunst. Hier spielt vor allem der Moment von Zerrissenheit, von Entzweiung eine Rolle, der zu einer Sehnsucht nach Verschmelzung führt, einem ganzheitlichen Gefühl. Das hat nichts an Aktualität eingebüßt. Auch heute erleben wir gesellschaftliche Spaltungen – und ein verstärktes Zusammenwirken von Politik und Gefühl.
arte magazin Welche Motive würden die Romantiker heute wählen?
Holger Birkholz Wir erleben gerade eine zeitgenössische Kunst, die sehr vielschichtig ist. Ich denke, dass Romantiker auch heute noch ihren Träumen von Freiheit Ausdruck verleihen würden – verbunden mit dem Wunsch nach Selbstverwirklichung und einem selbstbestimmten Leben. In der Post-Internet-Kunst sind die Klimaveränderung und die damit einhergehenden Konsequenzen für die Natur stark ins Bewusstsein gerückt. Ebenso spielt Virtualität eine wichtige Rolle, die Frage der Simulation von Realitäten. Wir integrieren in der Ausstellung etwa aktuelle Positionen wie „Woman To Go“ von Mathilde ter Heijne, die Biografien von einflussreichen Frauen sammelt und diese auf Postkarten mit Fotos von anonymen Frauen kombiniert. Diese Arbeit ist für uns wichtig, weil in der Romantik Frauen stark eingeschränkt waren. Die Ausstellung zeigt nur Werke von einer Künstlerin aus der Epoche – das ist symptomatisch, da Künstlerinnen in dieser konservativen Bewegung kaum Möglichkeiten hatten, selbstständig wirksam zu werden.
arte magazin Was empfanden Sie als die größte Herausforderung beim Kuratieren der Ausstellung?
Holger Birkholz Als das Projekt im Herbst 2018 lanciert wurde, gab es viele Treffen, bei denen die Kuratoren der Tretjakow-Galerie und des Albertinums die jeweils andere Sammlung kennenlernen konnten. Wir haben das Konzept gemeinsam entwickelt, was nicht üblich ist. Mit Daniel Libeskind haben wir einen Ausstellungsarchitekten gefunden, der alle Schritte begleitet hat – er war an der Hängung jedes Werkes interessiert und hat mit uns diskutiert. Eine Herausforderung bestand tatsächlich im Diskurs: Über die Ländergrenzen hinweg trafen andere Vorstellungen von Kunstgeschichte aufeinander. Das heißt, in Moskau stellte man sich unter Romantik etwas anderes vor als in Dresden. Wir haben debattiert und viel gelernt.
arte magazin Welches Kunstwerk würden Sie sich gerne in Ihr eigenes Wohnzimmer hängen?
Holger Birkholz Ich hatte Caspar David Friedrichs „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“ im Kinderzimmer hängen und habe es geliebt. Aber die Antwort ist zu kitschig. Ein Werk, das ich lieben gelernt habe: „Bei der Ernte. Sommer“ von Wenezianow. Keine Reproduktion kann die Tiefe und Qualität der Farbe, die spröde Oberfläche und Körperlichkeit erfassen. Das muss man erleben – in der Begegnung mit dem Kunstwerk im Museum.