Unerfüllte Träume

20 Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September ist die Gesellschaft der USA weiter gespalten. Misstrauen und Rassismus sind tief verwurzelt.

St. Louis im August 2014: Proteste nach dem Tod des afroamerikanischen Teenagers ­Michael Brown, der in Ferguson von einem weißen Polizisten erschossen wurde. Foto: Scott Olson, Getty Images

Der mächtigste Mann der Welt sitzt in einer Grundschule. Vor ihm die Zweitklässler der ­Emma E. ­Booker Elementary School. Sie stammen aus der einkommensschwachen, schwarzen Community der Kleinstadt Sarasota in Florida und lesen dem US-Präsidenten ­George W. Bush aus einem Übungsbuch vor – vom Leben einer Ziege. „No Child Left Behind“ heißt das Bildungsprogramm dazu. Kein Kind soll zurückbleiben. Plötzlich tritt ein weiterer älterer Mann heran und flüstert dem Präsidenten etwas ins Ohr: ­Andrew Card, Stabschef des Weißen Hauses. Er sagt: „Ein zweites Flugzeug hat den zweiten Turm getroffen. Amerika wird angegriffen.“ Es ist 9.05 Uhr am 11. September 2001. Das Gesicht von ­George W. Bush errötet, sein Blick erstarrt.

Es ist nur eine von vielen Szenen dieses Tages, die sich  eingebrannt haben ins kollektive Gedächtnis – gut dokumentiert mit Fotos und Videos. Nicht lange nach den vom islamistischen Terrornetzwerk al-Qaida verübten Anschlägen, die knapp 3.000 Totesopfer forderten, standen die Attentäter fest. Auf den Fahndungsbildern zu sehen: People of Color, also nichtweiße Menschen. Das Misstrauen übertrug sich sowohl in den USA als auch in Europa schnell auf große Teile der weißen Mehrheitsgesellschaft.

Plötzlich galten Menschen mit dunklerer Hautfarbe, egal ob arabischer Herkunft oder mit afrikanischen oder südamerikanischen Wurzeln, als potenziell verdächtig. Die Grundschüler aus Sarasota sind heute Mitte 20. Am 25. Mai 2020 wurden sie erneut Zeugen eines Medien­ereignisses, das um die Welt ging: der Ermordung des Afroamerikaners ­George Floyd. Mehr als neun Minuten kniete der weiße Polizeibeamte ­Derek ­Chauvin auf dem Hals des am Boden liegenden Mannes. Der Mord an Floyd löste einen Flächenbrand aus: In den USA und in vielen anderen Ländern protestierten Tausende Menschen gegen institutionelle Diskriminierung und Polizeigewalt. Die Bewegung Black Lives Matter gewann weltweit an Bedeutung.

Die Schüler der ­Emma E. ­Booker Elementary School hatten viel Hoffnung und Potenzial, als sie Präsident ­George W. Bush am 11. September 2001 etwas vorlasen – und doch gerieten viele von ihnen auf die schiefe Bahn. „Nach den Anschlägen wurde Amerika paranoider. Dieser Tag hatte negative Folgen auf das Leben von Einwanderern in den USA“, reflektiert ­Lazaro ­Dubrocq, einer der Ex-Schüler und Sohn kubanischer Migranten, in „Die Klasse von 09/11“. Der ARTE-Dokumentarfilm
porträtiert ­Dubrocq und seine einstigen Mitschüler. Die jungen Erwachsenen erleben die USA heute als ein Land, das geprägt ist von Misstrauen und Rassismus.

Die Klasse von 09/11: 20 Jahre danach

Dokumentarfilm

Dienstag, 7.9. — 20.15 Uhr 
bis 5.12. in der Mediathek

Militarisierung statt Konfliktprävention
Detaillierte Zahlen zu strukturellen Diskriminierungen aufgrund der Hautfarbe gibt es wenige in den USA. Abfällige Blicke, Beleidigungen und abgesagte Jobinterviews lassen sich schlecht erfassen. Was man weiß: Die Leben von People of Color sind durchschnittlich kürzer als die von weißen US-Amerikanern. Während Weiße 2017 eine Lebenserwartung von 78,5 Jahren hatten, wurden Bürger mit anderer Hautfarbe durchschnittlich nur 74,9 Jahre alt, wie Zahlen der Gesundheitsbehörde Center for Disease Control and Prevention zeigen.

Auffällig unverhältnismäßig ist auch die Anzahl der Opfer tödlicher Polizeigewalt: Seit 2015 wurden laut einer Auswertung der Washington Post 53 People of Color pro Million Einwohner von Polizisten getötet, im Vergleich zu zwölf Weißen. „Infolge des 11. September hat man Polizeireviere im ganzen Land militarisiert. Viele Polizeibehörden sind in Bezug auf Konfliktprävention unzureichend ausgebildet und haben ein mangelhaftes internes Kontrollsystem“, kritisiert Bastian Hermisson, Leiter der Heinrich­-Böll-­Stiftung in Washington.

In einem Bericht, den die Vereinten Nationen (UN) nach dem Tod Floyds in Auftrag gaben, heißt es: „Jahrhundertelange Diskriminierung hat staatliche Strukturen hervorgebracht, in denen Schwarze durch Polizei und Ämter, Gesetze, Verordnungen und Einstellungen systematisch benachteiligt werden.“ Noch immer würden People of Color wegen ihrer Hautfarbe „dehumanisiert“. Der jetzige Zustand sei unhaltbar, so die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, ­Michelle ­Bachelet. Stereotype entstünden schon in der Kindheit, da Lehrer nichtweißen Kindern weniger zutrauten. Wenn es um Leistung gehe, würden sie oft nur in Bereichen wie Sport, Musik, Tanz erwähnt. Alle Kinder sollten die gleichen Chancen haben. 20 Jahre nach 9/11 sind die USA davon offenbar weit entfernt.

Systemischer Rassismus bedarf einer systemischen Antwort

Michelle Bachelet, Hochkommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen