Vor ein paar Jahren hat Christoph Waltz erzählt, wie er im Herbst 2008 mit einem deutschen Schauspielerkollegen im Studio Babelsberg stand und mit ihm über die beginnenden Dreharbeiten zu „Inglourious Basterds“ sprach, dem Film von Quentin Tarantino, in dem beide eine Rolle hatten. Sie seien sich einig gewesen, so Waltz, dass ihr Auftritt eine Routinearbeit wie viele andere zuvor werden würde: „Wirklich anders als das, was wir die vergangenen 30 Jahre gemacht haben, wird das auch nicht sein.“
Es war der Irrtum seines Lebens. Die Rolle des SS-Standartenführers Hans Landa, des kalten und durchtriebenen „Judenjägers“, die Christoph Waltz für Tarantino spielte, hat seine Karriere auf Überschallgeschwindigkeit beschleunigt. Binnen eineinhalb Jahren gewann er für seine Darstellung einen Oscar, einen Golden Globe, den Preis der US-amerikanischen Schauspielergewerkschaft, verschiedene Kritikerpreise und die Auszeichnung als bester Darsteller bei den Filmfestspielen von Cannes. Vor seinem Auftritt in „Inglourious Basterds“ musste er sich um Kinorollen bemühen, danach bemühten sich die Produzenten und Regisseure um ihn.
Für einen solchen Karriereschub in mittleren Jahren – Waltz war 52, als er Hans Landa spielte – gibt es in der neueren Filmgeschichte keinen Vergleich. Oder doch, einen einzigen: den Aufstieg von Anthony Hopkins nach seiner Rolle als Hannibal Lecter in Jonathan Demmes „Das Schweigen der Lämmer“ (1991). Auch Hopkins kam aus der zweiten Reihe seines Metiers, auch er war schon lange vorher ein exzellenter Schauspieler, und auch er wurde durch den Part eines Bösewichts berühmt. Offensichtlich besitzen die großen Schurkenrollen des Kinos eine besondere Ausstrahlung, die sich, wenn man sie zu nutzen weiß, in Ruhm und klingende Münze umwandeln lässt. Und genauso offensichtlich hat die Fähigkeit, diese Ausstrahlung optimal zur Geltung zu bringen, etwas mit schauspielerischer Erfahrung zu tun.
Direkt nach dem Abitur vor die Kamera
Eben deshalb hat Christoph Waltz sich nicht nur geirrt, als er vor 13 Jahren die Rolle des Landa als eine Arbeit wie viele andere bezeichnete. Er hat, von seinem Standpunkt aus gesehen, auch recht gehabt. Denn Waltz hatte sich 30 Jahre lang in mehr als hundert Kino-, Fernseh- und Theaterrollen auf seinen Auftritt bei Tarantino vorbereitet. 1956 in Wien in eine Künstlerfamilie hineingeboren – beide Eltern waren Bühnen- und Kostümbildner –, hatte er schon kurz nach dem Abitur zum ersten Mal vor einer Kamera gestanden.
Damals, im Jahr 1977, spielte Waltz in Reinhard Schwabenitzkys Fernsehfilm „Der Einstand“ einen jugendlichen Straftäter, der nach der Entlassung aus dem Gefängnis im Alltag wieder Fuß zu fassen versucht. Dieser Günter Vesely, ein schmächtiger Verlierer, hat noch nicht das Geringste mit Hans Landa gemein, aber er verkörpert einen Typus, auf den Waltz in den folgenden Jahren festgelegt schien: den sensiblen, in sich gekehrten, scheuen und wenig lebenstüchtigen jungen Mann. Die Rollen, die er von da an im deutschen und österreichischen Fernsehen spielte, lagen zum großen Teil auf dieser Linie – wenn sie nicht einem anderen Stereotyp folgten: dem ebenso geheimnisvollen, aber weniger scheuen, dafür aggressiven und kühl kalkulierenden Verbrecher.
In dieser Funktion ist Christoph Waltz bis zu seiner Karriere-Wende durch Tarantino in zahlreichen Fernsehkrimis aufgetreten, mal als bürgerlicher Buhmann, mal als zäher, gerissener Fiesling. Der Höhepunkt dieser Genre-Laufbahn war seine Tour de Force an der Seite von Götz George alias Schimanski in dem Neunzigminüter „Blutsbrüder“ (1997), in dem George wie gewohnt für die handfestere Action zuständig war, während Waltz alle Register schuldloser Durchtriebenheit zog, um sich von einer falschen Mordanklage zu befreien.
Hollywood ist das Ziel, für jeden. Wer etwas anderes behauptet, dem glaube ich nicht
Bis in die letzten Feinheiten durchdacht
Den größten, auch in Preisen messbaren Erfolg hatte Waltz in dieser 30-jährigen Fernsehkarriere, von der er im Rückblick gesagt hat, sie sei ein Teufelskreis ohne Ausweg nach oben gewesen, mit der Titelrolle der „Roy Black Story“ (1996). Er verlieh dem berühmten Schnulzensänger der 1970er Jahre die Aura eines nie ganz zur Welt gekommenen Wunderkinds, das mit großen Augen seinen eigenen Abstieg betrachtet. Aber es gab auch ein paar andere, schwärzere Rollen. Eine davon war das Dokudrama „Der Tanz mit dem Teufel“ (2001), in dem Waltz den Entführer des Millionenerben Richard Oetker mit jener Eiseskälte versah, die auch sein Hans Landa in Wort und Tat verströmt. Eine Kälte freilich, die alles andere als spontan und impulsiv, die vielmehr bis in die letzten Feinheiten durchdacht und dosiert wirkt.
Christoph Waltz nämlich ist nicht das, was man gemeinhin einen Vollblutschauspieler nennt – ein Mann wie Marlon Brando, der seine physische Präsenz vor die Kamera knallt, seinen Text mit ein paar Manierismen garniert und wieder abtritt. Waltz ist ein Konstruktivist: Er setzt jeden seiner Auftritte aus Gesten, Worten, Bewegungen und Mienenspiel exakt so zusammen, dass er damit die größtmögliche Wirkung erzielt. Wenn man sich etwa das Schnellfeuer der Blicke genau anschaut, mit denen Landa am Anfang von „Inglourious Basterds“ den Besitzer des Bauernhauses, der in seinem Keller eine jüdische Familie versteckt, und dessen Töchter bombardiert, erkennt man, dass er jedem einzelnen dieser abgefeuerten Augenaufschläge einen spezifischen Ausdruck gibt – von Drohung und Einschüchterung bis zu kühlem Hohn und spöttischer Neugierde. Dasselbe Spiel treibt er wenig später in einem Pariser Café mit Mélanie Laurent alias Shosanna Dreyfus: Während er mit seiner Gabel genussvoll ein Stück Apfelstrudel mit Schlagsahne zerlegt, scheint er Shosanna mit Worten, Blicken und dem ironischen Zucken seines Mundes förmlich aufzuspießen.
Dieses kontrollierte Virtuosentum, das dem intuitiven Spiel von Hollywoodstars wie Brad Pitt oder Bruce Willis diametral widerspricht, hat Tarantino in Christoph Waltz zum Blühen gebracht. Umgekehrt hat Waltz in Tarantino den Regisseur gefunden, der kongenial zu seinen eigenen Fähigkeiten passt, weil er jeden Dialogsatz und jedes kleinste Requisit mit Bedeutung auflädt. Wenn Waltz Tarantinos Drehbücher mit Partituren vergleicht, die vor der Kamera aufgeführt werden, dann ist er selbst der Meistersänger und -geiger, der sie zum Klingen bringt.
Nach „Inglourious Basterds“ ist ihm das ein zweites Mal mit „Django Unchained“ (2012) gelungen, in der Rolle des Kopfgeldjägers Dr. King Schultz, der den Kettensklaven Django befreit und ihn zu seiner großen Liebe Broomhilda zurückbringt – nicht ohne ihn zuvor mit den Qualitäten eines frisch gezapften deutschen Biers und der Musik von Beethoven vertraut zu machen. Damit aber – und mit dem zweiten Oscar für die beste Nebenrolle für Waltz – endete vorerst die Zusammenarbeit zwischen dem Großmeister der filmischen Partitur und seinem deutschsprachigen Virtuosen.
Multitalent mit eigenen Plänen
Seitdem hat Christoph Waltz in einem Dutzend Hollywoodfilmen illustre und hoch bezahlte Rollen gespielt, darunter die des zynischen Rechtsanwalts in „Der Gott des Gemetzels“ (2011) sowie die des James-Bond-Widersachers Blofeld in „Spectre“ (2015) und im pandemiebedingt mehrfach verschobenen „Keine Zeit zu sterben“ (neuer Kinostart: 30. September).
Neben seinen Hollywood-Engagements fand das Multitalent sogar noch die Zeit, zahlreiche weitere Projekte zu verfolgen. Seit 2013 hat Waltz in Europa drei klassische Opern inszeniert (von Beethoven, Verdi und Strauss), mit dem Ehedrama „Georgetown“ (2019) seinen ersten Spielfilm als Regisseur gedreht und ist als Host in der US-Fernsehshow „Saturday Night Live“ aufgetreten. Die Routine, die er in seiner frühen Karriere erworben hat und auch als Hollywoodstar noch ausstrahlt, ist längst kein Selbstzweck mehr, sie dient seinen eigenen Plänen. Für Christoph Waltz ist die Zeit vorbei, in der er vor Studiotüren warten musste. Jetzt öffnen sie sich für ihn von selbst.