Die Regalwand hinter Jamie Cullum ist gefüllt mit Schallplatten, CDs und Büchern. Links neben ihm: zwei Klaviere, ein Metronom, Aufnahme-Equipment und zwei Gitarren an der Wand. Auf dem Boden steht ein roter Staubsauger. Für das Interview mit dem ARTE Magazin hat sich der britische Jazzpianist aus dem Studio in seinem Londoner Zuhause per Video-Anruf zugeschaltet. Durch die Pandemie nehme auch er mittlerweile mehr Termine online wahr.
„Als Musiker war das erst einmal sehr ungewohnt für mich – aber tatsächlich bin ich viel produktiver und habe dennoch mehr Zeit für meine Familie“, sagt er und lacht in die Kamera. Auf ARTE spielt der 42-Jährige ein Solo-Konzert im Versailler Espace Richaud. Ein Gespräch über ausgefallene Instrumente, Jazz-Puristen und Weihnachtsrituale.
arte magazin Mister Cullum, Sie sagten mal, alle Musiker seien gute Köche. Trifft das also auch auf Sie zu?
Jamie Cullum Ich liebe es, zu kochen! Meine Eltern arbeiteten beide, weshalb ich früh damit in Berührung kam. Und so vermischte es sich bald mit anderen kreativen Dingen, die ich gerne tat: Schreiben, Malen, Musizieren. Ein ausschlaggebender Moment war, als ich mit etwa 15 ein Nudelgericht meiner Großmutter für ein Mädchen aus meiner Schule zubereitete – sie war hin und weg. Da wurde mir die Kraft des Kochens so richtig bewusst!
arte magazin Haben Sie so auch Ihre Frau, die Autorin Sophie Dahl, überzeugt?
Jamie Cullum Wir sind als Essensliebhaber zusammengekommen und verbringen viele, viele Stunden damit, zu kochen, zu essen, darüber zu reden, nachzudenken und zu schreiben.
arte magazin Früher hatten Sie ein Spinett direkt neben Ihrem Kühlschrank. Steht das heute noch dort?
Jamie Cullum Das war in meiner Junggesellenbude. Ein Klavier in der Küche zu haben, war etwas sehr Geselliges. Mit Kindern ist das etwas schwierig. Heute steht also keins mehr neben dem Kühlschrank. Allerdings befindet sich meistens irgendein tragbares Instrument in meiner Nähe, das ich bei Bedarf zu mir hole – auch in die Küche. Aus Frankreich habe ich zum Beispiel ein auseinandernehmbares Keyboard, das in einen Rucksack passt. Es heißt „Piano de voyage“, sehr praktisch!
arte magazin Haben Sie noch andere ungewöhnliche Instrumente?
Jamie Cullum Oh ja! Einen sogenannten Dulcimer, auch Hackbrett genannt, den ich in Nashville gekauft habe. Joni Mitchell spielt dieses Instrument in ihrem Song „A Case of You“, es liegt dabei in ihrem Schoß. Dann habe ich noch ein Harmonium, das ich immer an Weihnachten raushole. Man klappt es auf wie einen Koffer und pumpt mit den Füßen Luft hinein. Es klingt wie ein aggressives Akkordeon.
arte magazin Schon im Alter von 24 Jahren waren Sie der erfolgreichste Jazzmusiker Großbritanniens. Wie schauen Sie heute, mit 42, auf diese Zeit zurück?
Jamie Cullum Ich wache immer noch jeden Morgen auf und bin völlig besessen von Musik. Ich glaube, um etwas wirklich gut zu können, muss man besessen davon sein. Ich war und bin ein absoluter Musik-Nerd, daran hat sich nichts geändert. Aber ich sträube mich ein wenig gegen die Idee, Großbritanniens erfolgreichster Jazzmusiker zu sein.
arte magazin Warum?
Jamie Cullum Als Jazzmusiker habe ich in gewisser Weise eine Abkürzung genommen. Wahre Jazz-Virtuosen haben eine derart gute Technik, dass diese quasi gegenstandslos wird. Sie müssen nicht mehr über technische Aspekte beim Spielen nachdenken, sondern können sich voll und ganz auf das Musikalische konzentrieren und darin spielerisch und kreativ sein. Ich war von vornherein immer direkt spielerisch und kreativ; das ist meine Art, meine intuitive Reaktion, sobald ich an einem Instrument sitze. Diese Eigenschaft sowie meine Begeisterung für Pop, Rock, Hip-Hop und andere Stile, die ich in meiner Musik vereine, verhalfen mir als Musiker zum Erfolg – in einer Zeit, als das noch nicht viele machten. Was die Jazz-Technik angeht, bekomme ich sie erst heute nach und nach in den Griff. Ich bin sehr motiviert, diese Lücken zu füllen. Ich habe sogar einen Lehrer, der mir Hausaufgaben gibt.
arte magazin Sie haben auch nie Musiktheorie studiert oder gelernt, Noten zu lesen, sondern immer nach Gehör gespielt. Welche Vorteile hat es, diese Grundlagen nicht zu kennen?
Jamie Cullum Kennt man die Basics nicht, fühlt man sich weniger eingeschränkt durch bestimmte Vorgaben – weil man von diesen eben nichts weiß. Gibt einem jemand Regeln vor, hält man sie wahrscheinlich auch ein. Auf der anderen Seite kann man viel eleganter gegen Regeln verstoßen, wenn man sie kennt. Beides hat also sicherlich Vor- und Nachteile.
arte magazin In Ihrer Musik kombinieren Sie viele verschiedene Genres. Sind Sie freier, weil Sie nicht in musikalischen Schubladen denken?
Jamie Cullum Freiheit ist sehr subjektiv. Über einen Picasso oder Turner oder Monet hätte man nie gesagt, sie seien nicht frei, nur weil sie sich künstlerisch innerhalb eines Genres und nicht genreübergreifend bewegen. Ich lasse mich musikalisch nicht einschränken und lebe meine Kreativität und Begeisterung aus, ohne zu viel darüber nachzudenken. So fühle ich mich frei.
arte magazin Können Sie Leute verstehen, die nichts von Crossover-Musik halten?
Jamie Cullum Absolut. Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe selbst eine sehr große puristische Seite in mir. Aber ich experimentiere eben auch gerne mit anderen Stilrichtungen. Puristen kämpfen darum, dass der Jazz in seiner reinen Form erhalten bleibt. Bei meiner Musik sind sie dann verständlicherweise misstrauisch. Vielleicht war auch die Kommerzialisierung meiner Musik für viele Jazzer schwer nachzuvollziehen. Da kommt ein junger, weißer Typ – der ich als Kind von Einwanderern zwar nicht mal bin, aber ich werde so wahrgenommen – und verwässert mit seinem Stil die afroamerikanische Geschichte des Jazz. In meinen Zwanzigern war es für mich nicht leicht, mit solchen Kritiken umzugehen. Heute weiß ich, wo ich musikalisch herkomme, ich liebe den Jazz und begegne ihm mit tiefem Respekt.
arte magazin 2019 schrieben Sie einen Song mit dem Titel „The Age of Anxiety“ („Das Zeitalter der Angst“). Wie würden Sie einen Song über die Pandemie nennen?
Jamie Cullum Ich weiß nicht, ob ein Song jemals den Todesfällen und Verlusten gerecht werden könnte. Jemand nannte die Zeit der Pandemie einmal „the great pause“ – „die große Pause“. Viele Menschen waren gezwungen, still zu sitzen und ihr Leben neu zu bewerten und zu hinterfragen. Aus dieser Zeit kann man viel lernen, denke ich. Und eventuell auch irgendwann einen Song schreiben.
arte magazin Haben Sie es während der Lockdowns sehr vermisst, auf der Bühne zu stehen?
Jamie Cullum Ich liebe es, mit anderen Musikern aufzutreten und die Energie des Publikums zu spüren. Aber mal abgesehen von dem Schock, dass ein Großteil meines Einkommens weggefallen ist, fand ich es auch sehr schön, mal für eine Weile nirgendwo hingehen zu müssen.
arte magazin Sie haben die Zeit dafür genutzt, ein Weihnachtsalbum aufzunehmen. Steckte dahinter die Sehnsucht nach einer heilen Welt?
Jamie Cullum Ich wollte tatsächlich schon immer ein Weihnachtsalbum aufnehmen. Und eigene Weihnachtssongs schreiben. Das mag zunächst einmal kitschig klingen, ist es aber gar nicht. 2019 hatte ich mein sehr persönliches Album „Taller“ fertiggestellt und hätte 2020 damit auf Tour gehen sollen. Als das dann wegfiel, hatte ich plötzlich Zeit. Die inhaltliche Begrenzung, nur über Weihnachten zu schreiben, gab mir die Freiheit, das Thema von vielen unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Lustigerweise glaube ich, dass ich hier einige meiner besten Stücke geschrieben habe.
arte magazin Im ARTE-Konzert in Versailles spielen Sie unter anderem „Christmas, Don’t Let Me Down“ („Weihnachten, enttäusche mich nicht“). Was hat es mit dem Song auf sich?
Jamie Cullum Es geht um die Dinge, die einem an Weihnachten besonders bewusst werden und über die nicht oft geredet wird: obdachlose Menschen, Flüchtlinge, Probleme mit der eigenen Familie und geliebte Verstorbene, an die man in dieser Zeit verstärkt denkt. Der Song versucht zu ermutigen, Weihnachten zu genießen und sich der Schwierigkeiten im Leben dennoch bewusst zu sein. Es ist kein deprimierendes Lied, auch wenn es vielleicht erst mal so klingt. Ich glaube daran, dass Dinge weniger schlimm werden, wenn man sich ihnen stellt.
arte magazin Ihre Familie hat burmesisch-indisch-jüdisch-preußisch-spanische Wurzeln, Sie selbst sind in Großbritannien geboren und aufgewachsen. Wie feiern Sie Weihnachten?
Jamie Cullum Sehr britisch. Was das angeht, hat sich meine Familie im Laufe der Zeit angepasst. Die Weihnachtsrituale sind mir sehr wichtig – ich weiß gar nicht genau, warum. Wir haben einen Weihnachtsbaum, schauen die Rede der Queen, Geschenke gibt es am zweiten Feiertag morgens. Ich schlafe auch gerne vor dem Fernseher am Kamin ein.
arte magazin Und was wird gekocht?
Jamie Cullum Auch da bin ich sehr traditionell: Es gibt Truthahnbraten. An Weihnachten kommt mir kein Crossover auf den Tisch.
Ich habe eine große puristische Seite in mir