Ein Strand, bestes Badewetter. Stimmengewirr dringt unter die Wasseroberfläche. Begleitet vom dumpfen Klang mehrerer Kontrabässe nähert sich der Räuber einer Gruppe strampelnder Kinderbeine. Die Musik nimmt an Fahrt auf, Celli und Posaunen setzen ein, dann kommt es zum Angriff. Rot aufschäumendes Wasser lässt die Badegäste binnen weniger Sekunden angsterfüllt ans Ufer fliehen. Alle scheinen in Sicherheit. Doch eine Mutter sucht ihren Sohn. Mit jedem unbeantworteten Schrei gerät sie mehr in Panik. Wo ist Alex? Dann treiben die blutverschmierten Fetzen seiner Luftmatratze an den Strand und lassen erahnen: Der Junge fiel einem Hai zum Opfer.
Zwar war es um das Ansehen der Tiere nie sonderlich gut bestellt, angsteinflößende Szenen wie die aus „Der weiße Hai“ haben das Image des Raubfisches jedoch besonders nachhaltig geprägt. Steven Spielberg schuf 1975 mit seinem Film einen ikonischen Horror-Thriller, der weltweit Einspielrekorde aufstellte. Und er setzte mit ihm ein Fanal der Angst. Denn auch heute noch wird über kaum ein Raubtier so heftig diskutiert wie über den Hai. Und bei jeder unglücklich verlaufenden Begegnung zwischen Mensch und Hai kocht die Diskussion erneut hoch. Sind die schwimmenden Karnivoren nun blutrünstige Bestien oder nur ewig missverstandene Meeresbewohner?
„Primitive Killerinstinkte? Fehlanzeige!“
Mit aufwendiger Kameratechnik hat der französische Unterwasserfotograf Didier Noirot Haie in ihrem natürlichen Lebensraum begleitet. Die so entstandene Dokumentation, die ARTE im Januar zeigt, nähert sich den Tieren ohne Vorurteile und fokussiert sich auf ihre unbekannte Seiten. Tatsächlich werden die Knorpelfische nicht von primitiven Killerinstinkten gesteuert. Sie sind gut organisierte und vorausschauend handelnde Wesen, denen eine unersetzliche Rolle innerhalb der marinen Ökosysteme zukommt. Nicht selten werden sie dabei selbst zu Opfern. „Schwertwale sind die größten natürlichen Feinde der Haie. Manchmal lenken sie die Haie mit Schwimmmanövern ab und rammen sie“, erklärt Marco Müller, Vorsitzender des Ocean Wildlife Project, im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Nachgewiesen ist dieses Phänomen etwa vor den Küsten Südafrikas und Kaliforniens: Sobald Orcas auftauchen, ziehen sich die ansonsten dort jagenden Weißen Haie zurück – zum Teil für längere Zeit.
Dass die meisten Menschen Haie immer noch sehr eindimensional betrachten, ist für Müller, der mit seinem Bruder, einem Meeresbiologen, konkrete Forschungen fördert, nur schwer nachvollziehbar. „Haie sind per se keine gefährlichen Tiere, es gibt nur gefährliche Situationen. Man geht ja auch nicht als Gazelle verkleidet in der Savanne joggen“, sagt Müller, der selbst ein erfahrener Taucher ist. Er fordert mehr Aufklärungsarbeit, um Unfällen mit Haien vorzubeugen.
Schwertwale sind die größten natürlichen Feinde der Haie
„Ein irrationales Feindbild“
Der Versuch, Tiere durch Zuweisung menschlicher Charaktereigenschaften erfahrbarer zu machen, nennt sich Anthropomorphismus. Während der „listige“ Fuchs und die „diebische“ Elster dabei verhältnismäßig gut wegkommen, hat der Hai weniger Glück. Man sagt ihm ein von Blutdurst getriebenes, aggressives Naturell nach – der Entwurf eines irrationalen Feindbildes. Anthropomorphe Projektionen kennzeichnen vor allem die Weltsicht von Kindern, da deren Abstraktionsvermögen noch gering ausgeprägt ist. Aber auch Macher von Naturdokumentationen nutzen die Vermenschlichung oftmals ganz bewusst, um die Spannung in ihren bild- und wortgewaltigen Produktionen zu erhöhen. Eine dichte, anthropomorphe Erzählweise suggeriert Nähe zu den Tieren und macht deren Leben für den Menschen erfahrbarer. Die Projektion menschlicher Eigenschaften auf andere Lebewesen kann den Blick auf die Realität jedoch gründlich verzerren. Eine Gefahr, besonders wenn es um den Artenschutz geht: Denn nicht alle Tiere passen in die Schemata, die den Beschützerinstinkt im Menschen auslösen. „Anthropomorphismen gelten in der biologischen Verhaltensforschung zu Recht als unangemessen“, unterstreicht der Psychoanalytiker Ulrich Gebhard.
Didier Noirots und Alexis Barbier-Bouvets Dokumentation verzichtet auf die Vermenschlichung als Stilmittel und beweist durch seine Beobachtungen, dass Haie eine Relativierung der ihnen zugeschriebenen Eigenschaften verdienen. Warum sollte einem Weißen Hai nicht ebenso hohe Wertschätzung zuteilwerden wie einem Koalabären am Eukalyptusbaum? Überfällig wäre es, gelten viele der rund 500 bekannten Hai-Arten doch als gefährdet.