Vor uns die Sintflut

Kaum eine Geschichte aus dem Alten Testament ist so bekannt wie die der Arche Noah. Dabei ist sie alles andere als einzigartig. Der Mythos der Sintflut zieht sich durch viele Kulturen. Die Flucht vor dem Wasser steckt im kollektiven Gedächtnis.

Arche Noah
Von jeder Art ein Paar: Simon de Myles „Die Arche Noah auf dem Berg Ararat“ entstand um 1570. Foto: Fine Art Images/Heritage Images/Getty Images

Die Arche Noah steht neben dem Interstate Highway 75 im US-Bundesstaat Kentucky, nahe der Grenze zu Ohio. Bauen lassen hat sie vor fünf Jahren die evangelikale Organisation Answers in Genesis, als eine Art Bibel-Erlebnispark. Die Kreationisten haben nicht nur die Maße für die gigantische Holzkonstruktion aus der Heiligen Schrift abgeleitet, sie nehmen auch die Schöpfungsgeschichte aus dem 1. Buch Mose – griechisch: Genesis – beim Wort. Inklusive der verheerenden Sintflut, mit der der alttestamentarische Gott gewissermaßen die Reset-Taste drückte: alles auf Anfang, aus Unzufriedenheit mit dem Treiben seiner Geschöpfe hienieden.

Jenseits des fundamental-christlichen Bible Belt im Mittleren Westen der USA hält der Glaube an die gottgesandten Wassermassen einem Realitätscheck allerdings kaum Stand. Versuche, das Bibelwort auf ein konkretes vor- oder frühgeschichtliches Naturphänomen zurückzuführen, hat es gleichwohl viele gegeben, wie die ARTE-­Dokumentation „Noah und die Sintflut: Große Mythen aufgedeckt“ zeigt. Schon bald richtete sich der Forscherblick dabei auf Regionen außerhalb des trocken-­staubigen Königsreichs Juda, in dem der Noah-Text im 7. Jahrhundert v. Chr. erstmals auf Hebräisch niedergeschrieben wurde. Etwa nach Mesopotamien. Im Zweistromland gab es nicht nur mehr Wasser, es finden sich auch auffällig ähnliche Vorläufer des biblischen Arche-Erbauers in altorientalischen Erzählungen wie dem Jahrtausende älteren sumerischen Gilgamesch-­Epos.

Und nicht nur dort gibt es Parallelen. Sintflut-­Mythen sind ein globaler Erfolgsstoff. Im Hinduisimus Indiens findet sich die Sage des Fisches Matsya, der den Menschheits-Stammvater Manu vor dem Wasser rettet. In der Schöpfungsgeschichte der australischen Aborigines kommt die Flut aus dem Maul eines Frosches. Selbst in der nordischen Sagenwelt der isländischen Edda-­Dichtung spielen Vorzeit- ­riesen und Sintflut mit. Und die griechisch-römische Antike steuert gleich mehrere mythologische Flutkatastrophen bei. Die bekannteste Geschichte handelt vom Göttersohn ­Deukalion und seiner Gattin ­Pyrrha, die sich vor dem Dauerregen des zornigen Zeus in einen hölzerne Kasten – eine Arche also – retten und damit den Fortbestand der Menschheit sichern. „Wir haben Belege für über 500 Flutmythen“, resümiert die britische Anthropologin Mary-Ann ­Ochota, eine der Expertinnen der ARTE-Dokumentation.

Große Mythen aufgedeckt

Dokureihe

Samstag, 13.11. — ab 20.15 Uhr
bis 12.12. in der Mediathek

Eiszeitgletscher und Gilgamesch-Epos
Dass die Sintflut-Saga in etlichen alten Kulturen auftaucht, die untereinander keinen Kontakt hatten, erklärt sich für den Geowissenschaftler ­Jürgen ­Herget vor allem mit natürlichen Entwicklungen am Ende der letzten Eiszeit. Auf dem Höhepunkt des frostigen Zeitalters lag der Meeresspiegel etwa 120 Meter tiefer, dann begann er vor rund 10.000 Jahren mit dem Übergang zur Warmzeit und dem Abschmelzen der Gletscher allmählich zu steigen. Wo es zu den Küsten hin seichter wurde, in den sogenannten Schelfgebieten, vollzog sich dieser Anstieg vergleichsweise schnell – und das weltweit.

„Bei einem Zentimeter pro Jahr nicht zum Wegrennen, aber innerhalb einer Generation schon eine traumatische Erfahrung“, so ­Herget, der an der Universität Bonn seit Langem über historische Hochwasser forscht, im Gespräch mit dem ­ARTE ­Magazin. Gerade in Mesopotamien habe es zudem eine Kombination besonderer Faktoren gegeben: tektonische Hebungen und Senkungen in einem extrem flachen Gebiet, die Flutung des Persischen Golfs und die Hochwasser von Tigris und Euphrat. Geowissenschaftlich passe das in die Entstehungszeit des Gilgamesch-­Epos mit seiner Sintflut-­Episode um den Noah-­Ahnen namens Utnapischtim.

Überflutungen ganzer Landstriche, zu denen es auch durch Naturkatastrophen wie Tsunamis, Wirbelstürme oder andere Extremwetterlagen kommen kann, haben sich tief ins kollektive Menschheitsgedächtnis eingegraben. Die Flut aus dem Alten Testament als Strafe für Fehlverhalten allerdings verdankt sich einer fälschlichen Umetikettierung zur „Sündflut“ im 15. Jahrhundert. In der althochdeutschen „sinvluot“ hingegen steckt die Silbe „sin“, die „überall“ oder „immer“ heißt. Sprachlich und bildlich hat es der Sintflut-Stoff­ bis in die Jetztzeit geschafft: sintflutartiger Regen, rettende Arche, Regenbogen. Eher als Zeichen für Vielfalt denn mit Bibelbezug, versammelt sich darunter die LGBTQI-Community. Nicht zu vergessen Noahs Taube mit dem Ölzweig, dank ­Pablo ­Picasso das universale Friedenszeichen schlechthin.

Ein Zentimeter Anstieg des Meeresspiegels pro Jahr ist innerhalb einer Generation eine traumatische Erfahrung

Jürgen Herget, Geowissenschaftler