WENDEPUNKT

STADTVERKEHR Autos raus, Problem gelöst? Fest steht: Wir müssen flexibler werden. Eine persönliche Annäherung an die urbane Mobilitätswende.

Illustration: Andrea Ucini

Schuldig! Ich gestehe: Ich fahre Auto. In Berlin. Motorisierter Individualverkehr – kurz MIV – klingt gesprochen wie Mief und ist für viele genauso abstoßend. Im Arbeitsumfeld bin ich damit ein Saurier. Ein Fossil, das fossile Brennstoffe verbraucht und die Luft verpestet. Betriebe ich zu Hause ein ungefiltertes Braunkohlekraftwerk, es könnte kaum schlimmer sein. „Du musst raus aus deiner Komfortzone“, fordern die jungen Kollegen. Komfortzonen allerdings gibt es viele. Alte, wie das Auto, und neue, wie Online-Shopping und Lieferservices für fast alles. Aber gut, Leben heißt Veränderung. Nur: in welche Richtung? Ein bloßer Umstieg auf den E-Antrieb etwa löst nicht alle Probleme. Die Umweltbilanz ist fraglich, und private Automobile brauchen viel Platz in der Stadt. Zum Fahren und zum Parken, wofür allein rund ein Viertel der Verkehrsflächen draufgeht. Die urbane Mobilität der Zukunft ist ein Verteilungskampf. Wer darf wie viel Stadt beanspruchen? Und wofür?

DIE SENDUNG AUF ARTE

Die Wissenschaftsdoku „Mobile Zukunft: Die Stadt von morgen“ gibt es am Samstag, 28.3. ab 23 Uhr sowie bis 25.6. in der Mediathek.

In Berlin lebt ein Drittel der Einwohner im Innenstadtbereich, markiert durch einen S-Bahn-Ring. Mehr als zwei Drittel aber wohnen außerhalb – mit längeren Wegen, einem weitmaschigeren Netz des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) sowie jenseits der Geschäftsgebiete von ­Sharing- und anderen neuen Mobilitäts­anbietern. In meinem bürgerlichen Wohnviertel stehen Autos, keine E-Scooter. Die Menschen sind im Schnitt älter, Autofahren gilt vielen als selbstbestimmteste, bequemste und sicherste Art, mobil zu sein. „Privacy“, die eigene, geschützte Sphäre, ist ihnen ein ernst zu nehmendes Bedürfnis. Die Frage nach der künftigen urbanen Mobilität markiert auch einen Generationenkonflikt.

Für meinen Arbeitsweg bedeutet das Auto konkret: Ich brauche die Hälfte der Zeit, die mich die 16-Kilometer-Strecke mit Bahnen und Bussen kosten würde. „Wohnst du noch in Berlin?“, fragen staunend die Kollegen, die meist in Radelentfernung zum Job leben. Ja, die Stadt ist groß. In der Fläche ziemlich genau zehnmal so groß wie Europas Fahrradhauptstadt Kopenhagen. Mein Arbeitsweg entspricht etwa dem Durchschnitt in der Pendlernation Deutschland: 17 Kilometer im Mittel. Gut 80 Prozent derjenigen, die mehr als zehn Kilometer zurücklegen, nutzen dafür das Auto. Es gibt also noch reichlich Dinosaurier am Übergang zum neuen Mobilitätszeitalter.

„Wer den Verkehr aus den Innenstädten heraushalten möchte, muss Alternativen bieten“, sagt Professor ­Karsten ­Lemmer, Verkehrsforscher und Vorstand am Deutschen Zentrum für Luft- und Raum­fahrt, im Gespräch mit dem ARTE Magazin, „und das ist in erster Linie der ÖPNV.“ Hierbei eine hohe Angebotsqualität in großen Metropolen zu schaffen, sei sogar einfacher als in mittleren Großstädten, wo sich beispielsweise U-Bahn-Systeme nicht rentierten, erläutert ­Lemmer, der auch einer der Experten in der ARTE-Dokumentation „Mobile Zukunft: Die Stadt von morgen“ ist. Darin werden unterschiedliche Szenarien, etwa mit Flugtaxis und autonomen Fahrzeugen, für das Jahr 2049 entworfen. Aus heutiger Sicht noch Science-Fiction, deren Realisierung unter Fachleuten einige Kontroversen auslöst. Aber schon auf kurze Sicht stehen Hürden auf dem Pfad in die Zukunft unserer Fortbewegung.

Einfach nur verteuern reicht nicht

So lässt sich Mobilitätsverhalten zwar durch die Umgestaltung von Verkehrsräumen steuern – mit breiteren Fahrradwegen oder über die Kosten. „Aber wenn man nicht möchte, dass eine Stadt ausblutet“, sagt ­Lemmer, „reicht es nicht, einfach nur durch Parkgebühren oder City-Maut zu verteuern.“ Mobilität werde als sehr wichtiges Gut wahrgenommen – ein ebenso sensibler Bereich wie Energie, Wohnraum oder Lebens­mittel. ­Lemmer: „Wenn sich das am Ende nur noch wenige leisten können, führt es zu gesellschaftlichen Schieflagen.“ Die mobile Zukunft ist also auch eine soziale Frage.

Den Königsweg für die nächsten Jahrzehnte gibt es nicht. Das Zauberwort – auch für mich – aber lautet „Flexibilität“. Oder wie es ­Karsten ­Lemmer formuliert: „Bezahlbarkeit und Zugang zu Informationen, um die eigene Mobilität zu optimieren, das werden die entscheidenden beiden Parameter für die Auswahl von Verkehrsmitteln sein.“ Digitalisierung ist der Fortschrittstreiber. Smartphone, Apps oder auch eine Mobility-­Card liefern mir künftig jederzeit Transparenz über Kosten, kürzeste Wegstrecken und die beste Kombination von Verkehrsmitteln.Die tröstliche Botschaft des Mobilitätsforschers: „Ältere Menschen erschließen sich zunehmend diesen technologischen Zugang, da gibt es keinen krassen Altersschnitt.“ Na dann los!