Wieder zwei Tote. Und wieder waren es Morde an Angehörigen des Osage-Stammes. Als sich die indigene Gemeinschaft versammelt, um über mehr als ein Dutzend mysteriöser Gewalttaten zu beratschlagen, äußert Paul Red Eagle (Everett Waller), einer ihrer Anführer, einen klaren Verdacht: „Die Weißen sind wie Bussarde, die über unserem Volk kreisen. Sie wollen uns bis auf die Knochen abnagen. Nichts übrig lassen.“ Die Anklage des indigenen Politikers zählt zu den Schlüsselszenen in Martin Scorseses jüngstem, oscarnominierten Film „Killers of the Flower Moon“ (2023) mit Robert De Niro und Leonardo DiCaprio in den Hauptrollen. Was das dreieinhalbstündige Werk, das auf einem akribisch recherchierten Tatsachenroman von David Grann basiert, auszeichnet: Scorsese erzählt den Stoff um die Osage-Morde nicht, wie es sich angeboten hätte, als bloße Crime Story der 1920er Jahre. Er bedient sich ganz bewusst des Genres, das sich wie ein roter Faden durch die US-amerikanische Filmgeschichte zieht: des Westerns.
Dass sich erfolgreiche Regisseure irgendwann in ihrer Karriere gerne am sogenannten Wilden Westen abarbeiten, mag verwundern. Neben Scorsese taten das unter anderen Quentin Tarantino („Django Unchained“, 2012) sowie Ethan und Joel Coen („The Ballad of Buster Scruggs“, 2018). Ist denn nicht alles auserzählt? Langweilt sich das Publikum nicht längst, wenn Männer mit Whiskey am Lagerfeuer sitzen oder mit Revolvern und Cowboyhüten durch die staubige Prärie stapfen? Und ist der Wildwest-Mythos nicht als das entlarvt, was er vor allem ist: eine romantisierte Umdeutung der Geschichte der USA, die zugunsten der europäischstämmigen Siedler und zulasten der indigenen Native Americans ausfiel? Sowohl Scorsese als auch Tarantino und die Coen-Brüder haben bewiesen, dass der Western mehr sein kann. Und heute, gut 150 Jahre nachdem massenhaft weiße Siedler bis zum äußersten Westen Nordamerikas vordrangen, mehr sein muss. Vorbei sind die Zeiten, in denen ruppige Kerle wie John Wayne („Der Marshal“, 1969), für die Native Americans nicht nur auf der Leinwand lästige „Rothäute“ waren, als Helden durchgingen. Der Mythos vom Wilden Westen hingegen scheint von Generation zu Generation mit zu wachsen.
Wie die Neo-Western zeigen, eignet sich das Genre-Korsett aus festen Motiven und Charakteren durchaus als Projektionsfläche für gesellschaftliche Entwicklungen. Mittlerweile werden sogar Themen wie Queerness („Brokeback Mountain“, 2005) und toxische Maskulinität („Power of the Dog“, 2021) von Cowboys verhandelt. „Die Kontinuität des Mythos des amerikanischen Westens ist ein Beweis für seine Kraft und seine Flexibilität. Er ist enorm anpassungsfähig“, sagt Kulturwissenschaftlerin Sarah Keyes, die an der University of Nevada in Reno zur Geschichte des nordamerikanischen Westens forscht. Das aktuellste Beispiel dafür, betont Keyes im Gespräch mit dem ARTE Magazin, liefere nicht Hollywood, sondern Pop-Megastar Beyoncé. Auf ihrem kürzlich veröffentlichten Album „Cowboy Carter“ seziert die schwarze Sängerin das Musikgenre Country, das mit viel Wildwest-Romantik bevorzugt für Weiße vermarktet wird. Auf dem Albumcover sitzt Beyoncé, Zügel in der rechten, Sternenbanner in der linken Hand, mit breitkrempigem Stetson-Hut und lackledernem Rodeo-Outfit auf dem Sattel eines Schimmels. „Egal, ob im Film oder im Pop: Der Western-Mythos ist deshalb so erfolgreich und langlebig, weil er unsere tiefe Sehnsucht nach
Abenteuer bedient“, sagt Keyes. „Und er lebt von der Hoffnung, dass wir immer wieder neu definieren können, was es bedeutet, amerikanisch und frei zu sein.“ Dabei ist die Cowboy-Nostalgie unwiderruflich mit dem American Dream verknüpft: Wo sonst trifft kompromissloser Individualismus – man könnte auch sagen: das Recht des Stärkeren – so geballt auf den unbedingten Glauben an eine bessere Zukunft? Obendrein eingebettet in die imposanten Naturspektakel Nordamerikas, die wie gemacht sind für den Traum nach unendlicher Freiheit.
Ihren Anfang, da sind sich Geschichtsschreiber einig, nahm die Legende um den Wilden Westen mit dem Mann, dem ARTE im Mai einen Dokumentarfilm widmet: William Frederick Cody, Spitzname: Buffalo Bill (1846–1917). Bevor er ab den 1880er Jahren mit seinen „Wild West Shows“ durch die USA und später durch Europa tourte, hatte er viele Abenteuer, aus denen sich der Western-Mythos speist, selbst erlebt. Er war Pony-Express-Reiter, Glücksritter beim Goldrausch in Colorado und arbeitete als Scout für die US-Armee – sowohl im Amerikanischen Bürgerkrieg als auch in Schlachten gegen die indigenen Stämme Kiowa und Comanche. Und natürlich, daher sein Pseudonym, beteiligte er sich an dem Gemetzel, das den millionenfach durch die Prärie ziehenden Bison, den Stolz der Native Americans, innerhalb weniger Jahrzehnte fast ausgerottet hätte. ARTE beleuchtet dieses Thema im zweiteiligen Dokumentarfilm „Der Amerikanische Bison: Seele der Prärie“.
Im Mittelpunkt von Buffalo Bills aufwendig inszenierten Shows stand meist die sagenumwobene American Frontier: die imaginäre Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis, die sich dank nachrückender europäischer Siedler im 19. Jahrhundert immer mehr westwärts verschob. „Dieser Grenzraum galt als rau und gefährlich. Er war konfliktbehaftet, ein Raum, der ‚erobert‘ und ‚besiegt‘ werden musste“, beschreibt Historikerin Ursula Lehmkuhl in einem Beitrag für die Freie Universität Berlin das vorherrschende Narrativ. Bei den Shows, die als Freiluft-Theater mit mehreren Hundert Darstellern und Tieren teils viele Tausend Zuschauer anlockten, standen die Kämpfe mit der indigenen Bevölkerung, den „Indianern“, im Zentrum. Ein anderes Element war der Kampf mit der Natur. „Auch Schluchten, Wüsten, Wälder und wilde Tiere bedrohten das Leben der Siedler. Die Natur – oder präziser: die Umwelt – bekommt hier eine für die US-Geschichte eigentümliche Rolle als historischer Akteur“, so Lehmkuhl. Neben seinen Shows wurden auch Groschenromane über Buffalo Bill, die seine tatsächlich erlebten Abenteuer fantasievoll ausschmückten, Ende des 19. Jahrhunderts zum Verkaufsschlager – und befeuerten die Legende vom Wilden Westen.
Auf der Leinwand tauchte im Jahr 1903 erstmals eine Western-Handlung auf: im zwölfminütigen Kurzfilm „Der große Eisenbahnraub“ von Edwin S. Porter (1870–1941). Später griffen Fortsetzungsserien Motive aus Buffalo Bills Shows auf, wobei meist ein Cowboy-Held – etwa „Broncho Billy“ (ab 1908) – im Mittelpunkt stand und sich slapstickhafte Schlägereien und Verfolgungsjagden lieferte. Den Grundstein für den Siegeszug des Westerns in Hollywood legte in den 1920ern Regisseur John Ford (1894–1973): Er verließ die Studios und drehte stattdessen vor ausgewählter Naturkulisse und mit Hunderten Statisten sowie Tausenden Tieren. Wegweisend etwa der Stummfilm „Das eiserne Pferd“ (1924), der vom Bau der ersten US-amerikanischen transkontinentalen Eisenbahnstrecke erzählt. Fords größter Erfolg war das Postkutschen-Drama „Ringo“ (1939). Hier durfte John Wayne (1907–1979) erstmals vor der charakteristischen Sandstein-Kulisse des Monument Valley als Western-Held glänzen.
SCHLUSS MIT GUT GEGEN BÖSE
In den 1950ern und 1960ern folgten vermehrt sogenannte Adult Western, die das simple Gut-gegen-Böse-Schema aufbrachen und Themen wie Politik, Liebe und Moral in den Vordergrund rückten. Bestes Beispiel hierfür: Die Rache-Geschichte „Bravados“ (1958), die ARTE an seinem Thementag zeigt. Gesellschaftliche Umbrüche sollten sich fortan auch in Wildwestfilmen niederschlagen, gut zu sehen in -Arthur Penns „Little Big Man“ (1970), in dem die Kriege gegen Native Americans erstmals bewusst als Völkermord dargestellt wurden. Auch die schmutzig-schwitzenden Revolverhelden der in Europa gedrehten Italowestern revolutionierten das Genre. Allen voran Regisseur Sergio Leone (1929–1989) mit Filmen wie „Für eine Handvoll Dollar“ (1964) und „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968), die sich mit zynischen Antihelden sowie expliziter Gewaltdarstellung und extremen Kamerawinkeln stark von früheren Filmen unterschieden.
Heutige Neo-Western wie Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“ oder auch Kevin Costners erfolgreiche Serie „Yellow-stone“ (ab 2018) gelten wie Italowestern als Subgenre in der Cowboy-Großfamilie. Motive und Charaktere des traditionellen Westerns werden darin aufgegriffen oder teils nur angedeutet – und mit der Moderne gekreuzt. „Man spürt in diesen Werken ein neues Verständnis für die Geschichte des nordamerikanischen Westens. Und vor allem einen gewissen Fortschritt bei der akkuraten Darstellung der Native Americans im Film“, betont US-West-Expertin Sarah Keyes, die Chloé Zhaos Rodeo-Drama „The Rider“ (2017) als Lieblingswestern nennt. Hilft ausgerechnet der oft fehlgeleitete Mythos vom Wilden Westen den USA bei der Versöhnung mit der eigenen Geschichte? Zumindest zeigt es, dass die derzeitige Generation an Filmemachern eine Weisheit des bekannten Lakota-Häuptlings Sitting Bull (1831–1890) verinnerlicht hat: „Wir sind alle hier auf der Erde, um zu lernen und zu wachsen.“
Der Western bedient unsere tiefe Sehnsucht nach Abenteuer