Zwei Männer stehen, winzig klein, am Abgrund eines gewaltigen Canyons. An den Hängen ragen bizarre Felsformationen auf, in der Tiefe wälzt sich ein Fluss durch gelbliches Ufergestein. Es ist der Yellowstone River, der die Schlucht gegraben hat. An ihrem Ausgang schäumen die fast 100 Meter hohen Lower Falls. Thomas Moran malte dieses monumentale Panorama 1872. Erst wenige Weiße hatten bis dahin die dargestellte Landschaft gesehen. Die Gegend des Yellowstone Rivers in den Rocky Mountains von Wyoming war nur schwer zugänglich und deshalb wenig erforscht.
Moran gehörte zur Künstlergruppe der Hudson River School. Deren romantische Landschaftsbilder zeigten die Sehnsucht nach einer Natur, die Ende des 19. Jahrhunderts vom Menschen fast vollständig verdrängt worden war. Der Pazifik war erreicht, das Gebiet der heutigen USA quasi erschlossen. Man begann zu verstehen, dass etwas für die Natur getan werden musste, wenn man sie trotz Eisenbahn, Landwirtschaft und Goldrausch erhalten wollte. Am 1. März 1872 unterschrieb US-Präsident Ulysses S. Grant ein Gesetz zur Gründung des ersten Nationalparks der Welt. Die Schönheit der Natur sollte geschützt werden, hieß es darin. Allerdings nicht vor dem Menschen, sondern für den Menschen. Die Idee war „ein öffentlicher Park oder Vergnügungspark zur Wohltat und zum Vergnügen der Menschen“.
Geld gab es für den Yellowstone-Nationalpark zunächst kaum. Die ersten Aufseher arbeiteten ehrenamtlich. Investiert wurde von privater Seite: Die Northern Pacific Railroad eröffnete 1883 eine Zugstation in Livingston, am nördlichen Eingang des Parks. Dort hielt der Zug der „Wonderland Route“ auf seinem Weg von New York an die Pazifikküste. Die Fahrt versprach eine Reise mit Wild-West-Flair zum „erhabensten Naturwunder der Welt“. Doch dieses Naturwunder war bedroht – nicht zuletzt durch die Touristen selbst. Zum Reisevergnügen gehörte es, Bisons zu jagen: Aus den Zugfenstern heraus wurde auf sie geschossen. Außerdem drangen Wilderer in den Nationalpark ein. Die wenigen ehrenamtlichen Ranger konnten das fast 9.000 Quadratkilometer große Gebiet nicht schützen. Schließlich rückte die Armee an: 1886 übernahm sie das Management des Yellowstone-Nationalparks. Mit Erschrecken stellte man fest, dass nur noch 23 Bisons am Leben waren. Es waren die letzten ihrer Art. Sie zu schützen, wurde zum wichtigsten Zweck des Parks.
Natur zur Unterhaltung
Romantische Landschaftsbilder und Erlebnisreisen hatten nicht genügt, um den Menschen Respekt vor der Natur beizubringen. Deshalb wurde 1916 der National Park Service gegründet. Seine Aufgabe: die Natur vor menschlichem Einfluss schützen, um sie „auch zukünftigen Generationen zur Unterhaltung“ zur Verfügung zu stellen. Naturschutz und Tourismus – ein Widerspruch, wie die Folgejahrzehnte zeigten. Immer mehr Besucher kamen in den Yellowstone-Nationalpark, vor allem wegen der Wapitis. Der National Park Service bemühte sich deshalb, ihre Populationen zu vergrößern und für Besucher sichtbarer zu machen. Im Winter wurden Futtertröge aufgestellt, um die Hirsche anzulocken.
Gleichzeitig wurden Raubtiere, die dem Wild gefährlich werden konnten, aus dem Park verdrängt. 1923 wurde der letzte Wolf im Yellowstone-Park getötet. Auch die Zahl der Grizzlybären hatte sich stark reduziert. Es schien, als hätte der Mensch die perfekte Wildnis kreiert: ein paradiesisches Idyll, in dem Wapitis grasen, ohne von Raubtieren bedroht zu werden. Doch schnell stellte sich heraus, dass die Natur sich nicht nach menschlichen Vorstellungen einrichten ließ. Die Wapitis vermehrten sich rasant, da sie quasi keine Feinde mehr hatten, und wurden selbst zur Gefahr für die Naturlandschaft. Der Verbiss in den Wäldern nahm zu, die Weideflächen wurden von Bison- und Wapitiherden übergrast, es gab kaum noch Sträucher.
1961 tötete der National Park Service mehr als 4.000 Wapitis – fast die Hälfte der Population im Park. Naturschützer und Parkbesucher protestierten. Um die Aktion zu rechtfertigen, gab das Innenministerium nachträglich eine Studie in Auftrag. Der „Leopold Report“ bestätigte 1963, dass das Töten der Wapitis die beste Lösung für die Probleme im Yellowstone-Nationalpark gewesen sei. Er besagte, dass derartiges „Populationsmanagement“ in größerer Manier, vielleicht sogar jährlich, vorgenommen werden sollte. Das Ziel müsse sein, „die Bedingungen wiederherzustellen, die herrschten, als die ersten weißen Männer das Land besuchten“. Der Nationalpark sollte „ein Aushängeschild des primitiven Amerikas“ sein. Eine Urwildnis, kontrolliert vom Menschen – der Widerspruch blieb.
Es brauchte eine Katastrophe, um die Debatte erneut anzustoßen: Im Sommer 1988 gerieten mehrere kleine Feuer im Nationalpark außer Kontrolle. In wenigen Tagen wuchsen sie zu großen Brandherden, die bis in den Herbst hinein im ganzen Park wüteten. Obwohl alle Kräfte im Einsatz waren, gelang es nicht, die Feuer zu löschen. Erst der Regen stoppte die Brände, die zu diesem Zeitpunkt bereits ein Drittel des Parks erfasst hatten. Es zeigte sich: Nur die Natur konnte die Natur kontrollieren.
Dank dieser Erkenntnis konnte 1995 auch endlich der Wolf in seine Heimat zurückkehren: 35 Wölfe aus Kanada wurden im Yellowstone- Nationalpark angesiedelt. Sie brachten die Natur wieder ins Gleichgewicht. Die Zahl der Wapitis ging stark zurück und damit auch der Verbiss. Sträucher konnten sich erholen und Bibern als Baumaterial für ihre Dämme dienen. Heute durchstreifen knapp 100 Wölfe in zehn Rudeln den Park. Sie sind seine Wächter. Der Mensch ist nur Gast.
Es klingt nach einer Szene, wie Thomas Moran sie 1872 gemalt hat: der Mensch als Betrachter einer Natur im harmonischen Gleichgewicht. Doch die Fauna des Yellowstone-Nationalpark ist immer noch bedroht. 2008 wurde der Wolf von der Liste der gefährdeten Tierarten gestrichen und wird seither rund um den Park wieder gejagt. Nicht immer mit fairen Mitteln: 2012 lockten Jäger die Alpha-Wölfin She-Wolf mit Ködern aus der Sicherheit des Parks und erschossen sie. Demnächst könnte es dem zweiten großen Raubtier, dem Grizzlybären, ähnlich ergehen. Die Regierung möchte nach mehr als 40 Jahren die Jagd auf die scheuen Tiere wieder erlauben.