Am südlichen Ende der Monument Avenue in Virginias Hauptstadt Richmond steht das jüngste Kapitel der amerikanischen Geschichte, aufgeschlagen im Sommer 2020. Robert E. Lee, in Bronze gegossen und mit durchgedrücktem Rücken, hält die Zügel seines Pferdes in der Hand. Der einstige Oberbefehlshaber der Confederate States Army, des Heeres der Konföderierten Staaten von Amerika, thront hoch über den Baumgipfeln an der vierspurigen Allee mit den teuren Stadtvillen. Errichtet wurde das stolze Zeichen für den Kampf der Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg nicht in diesen heißen, angespannten Monaten. Die Statue steht dort seit 1890.
Erst die neu errichteten Betonbarrikaden um die Verkehrsinsel mit dem Denkmal verpassen dem Ort jetzt einen modernen Anstrich – im Wortsinne: „ACAB“, die Abkürzung für „all cops are bastards“, hat jemand in bunten Farben auf den fast 15 Meter hohen Steinsockel, auf dem die Statue steht, gepinselt. Dazu „BLM“ für Black Lives Matter, „Stop killing us“ und ein unmissverständliches „Fuck Trump“.
Es ist das perfekte Abbild Amerikas in diesem Sommer: Ein Symbol der Sklaverei trifft unmittelbar auf die Parolen der Befreiung. Nur gibt es keinen Gewinner in diesem Gefecht. Während der landesweiten Proteste nach dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners Georg Floyd in Minneapolis Ende Mai fielen zahlreiche Standbilder von Generälen und Politikern, deren Ruhm sich auf Schmerz und Unterjochung anderer gründete. Lees Denkmal wurde nicht abgerissen – ein richterlicher Bescheid nach Klagen, unter anderem von Anwohnern, hat das verhindert. Die Statue gleicht der amerikanischen Gesellschaft: noch instand, aber an einigen Stellen baufällig und deutlich angekratzt.
Die andernorts stürzenden alten Bronzehelden waren wiederum eine Momentaufnahme von etwas viel Größerem: Amerika durchlebt zurzeit, wieder einmal, ein kulturelles Erwachen, das mehr in Form einer Abrechnung daherkommt. Der Mythos vom American Dream, der Chance für jedermann auf ein gutes Leben, ist schon lange widerlegt, ohne seine grundlegende Anziehungskraft verloren zu haben. Nach dem Tod von Floyd durch einen weißen Polizisten aber offenbart sich, wie zerstörerisch sich struktureller Rassismus noch immer auf das Leben schwarzer Amerikanerinnen und Amerikaner auswirkt. Es geht dabei unter anderem um Zugänge zu Bildung, Jobs, Finanzen und Gesundheitswesen. Wie sehr es in Letzterem knirscht, spiegelt sich drastisch in den Zahlen der Corona-Infektionen wider. Afroamerikaner haben laut den Daten der Johns Hopkins University eine dreimal höhere Wahrscheinlichkeit, sich mit Covid-19 zu infizieren, als weiße Amerikaner.
„Entweder wird Amerika die Ignoranz auslöschen“, schrieb der Soziologe W. E. B. Du Bois Anfang des 20. Jahrhunderts über das afroamerikanische Ringen um Gleichberechtigung, „oder die Ignoranz wird die Vereinigten Staaten auslöschen.“ Die anhaltenden Proteste gegen Diskriminierung, wie zuletzt nach den Schüssen auf Jacob Blake in Wisconsin, haben Amerikas schon länger schwelenden Kulturkampf neu angefacht.
Keinen Verbündeten haben die derzeit Demonstrierenden – wenig überraschend – in ihrem Präsidenten. Im Gegenteil, am Abend des 1. Juni gab es einen lauten Knall im Lafayette Square, dem Park vor dem Weißen Haus, Tränengas lag in der Luft. Die friedlichen Protestierenden, die sich vor der Absperrung zu Donald Trumps Amtssitz versammelt hatten, wurden rabiat von Sicherheitskräften vertrieben, damit Trump sich für ein Foto vor die gegenüberliegende Kirche stellen konnte. Der amerikanische Präsident bekam eine Bibel in die Hand gedrückt, die er drehte, wendete und schließlich hochhielt wie eine Trophäe. Ein paar Wochen später, am Abend vor dem Unabhängigkeitstag, warnte Trump in South Dakota vor einem „neuen linksextremen Faschismus“, deren Waffe „cancel culture“ sei.
Amerika sorgt sich um Amerika
Wer jetzt meint, die USA unter ihrem 45. Präsidenten kaum wiederzuerkennen, hat natürlich recht. Ein Normalzustand ist das nicht, was sich in den vergangenen dreieinhalb Jahren im Weißen Haus abgespielt hat. Aber Teil der Wahrheit ist auch, dass Donald Trump nicht den Beginn der Polarisierung markiert, sein politischer Aufstieg jedoch davon begünstigt wurde.
„Trump, der Verschwörungstheorien weiterleitet, der die Sympathien von ,White Supremacyʻ-Gruppen auf sich zieht und der sich als der gekonnte Erbe einer langen Tradition aus Nativismus, Diskriminierung und Autoritarismus etabliert hat, bewegt sich unaufhaltsam darauf zu, die Präsidentschaftskandidatur, in der, wie Republikaner sie gern nennen, ,Partei von Abraham Lincolnʻ einzufahren“, schrieb David Remnick, der Chefredakteur des New Yorker im Frühjahr 2016. „Kein amerikanischer Demagoge – weder Huey Long noch Joseph McCarthy oder George Wallace – war jemals näher dran an solch einer nationalen Machtposition.“
Amerika macht sich schon länger Sorgen um Amerika. Rassismus und Diskriminierung, wie sie diese drei von Remnick genannten Politiker später immer wieder entfacht haben, existierten in den USA schon einige Hundert Jahre vor ihnen. Sklaverei, Amerikas Ursünde, hat die Strukturen geschaffen und das System errichtet, gegen das die Anhängerinnen und Anhänger der Black-Lives-Matter-Bewegung in den vergangenen Jahren nicht nur vor Robert E. Lees Statue immer wieder protestiert haben.
Spätestens mit der sogenannten Southern Strategy Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre, bei der weiße Wähler im Süden der USA mit Identitätspolitik von aufstrebenden Politikern wie Richard Nixon angelockt wurden, war der Grundstein für die moderne Republikanische Partei gelegt. Ein Rechtsruck, der sich – mit minimaler Unterbrechung durch Jimmy Carter – fast 25 Jahre lang ausgezahlt hat und der durch Trumps hetzerischen Nationalismus noch einmal neuen Aufwind bekommt.
Was macht Amerika zum erstrebenswerten Ort?
Selbst bevor sich das Coronavirus wochenlang fast ungebremst in den USA verbreitete, konnte man sich schon länger eine simple Frage stellen: Was, bitte, macht Amerika augenblicklich überhaupt noch zu einem lebenswerten Ort? Der American Dream war selbstverständlich schon immer der Widerspruch zwischen der Weite der Möglichkeiten und der Enge des Faktischen – in den USA geht alles und doch steht das Land sich oft selbst im Weg. Die Amerikaner lieben ihre Freiheit und können deshalb über keine sinnvollen Waffengesetze verhandeln; sie lieben ihren Individualismus und können sich deshalb für kein funktionierendes Gesundheitssystem entscheiden.
Und doch hält die Welt an Amerika fest. Die widersinnigen Gegensätze machen es seltsamerweise immer noch anziehend. Hier ist das Leben leichter und härter zugleich; hier ist alles etwas größer, was einen selbst noch kleiner erscheinen lässt; hier ist selbst das billigste Zeug teuer. Amerika ist eben auch ein Business, das Gewinner und Verlierer produziert, aber immer mit Versprechen lockt.
Dem Versprechen, dass es sich doch lohnt, diesem American Dream hinterherzujagen. Vor allem für eine junge Generation von Amerikanern scheint die Trump-Präsidentschaft das Erweckungserlebnis ihres Aktivistendaseins gewesen zu sein. Es hat die Augen dafür geöffnet, dass es für den amerikanischen Traum auch einen lebenswerten Alternativweg gibt: In den vergangenen Jahren sind Hunderttausende auf die Straßen gegangen, um für gleiche Rechte und strengere Waffengesetze, gegen den Klimawandel und gegen Sexismus zu protestieren.
Eine Rekordzahl an Kandidatinnen ist in den Zwischenwahlen im November 2018 aufgestellt worden, und auch wenn progressive Politikerinnen wie Alexandria Ocasio-Cortez und Ayanna Pressley alte Strukturen aufbrechen, gibt es dennoch keine Garantie, dass die immense Polarisierung in Amerika damit aufgehoben wird.
Selbstverständlich gehört es zur großen amerikanischen Erzählung, dass es erst eine Tragödie, Niederlagen und Rückschläge braucht, um sich weiterzuentwickeln. Es kann alles passieren – auch eine zweite Amtszeit Trumps. Wenn er die Welt eines gelehrt hat, dann, dass der Zugang zum amerikanischen Traum auch immer eine dunkle Hintertür hat, reserviert für die Zocker, Spieler und Ganoven, die etwas mehr riskieren als der Rest.
Ob Amerikas Bilderfabrik derzeit langsam an einer Schlussszene für 2020 arbeitet oder noch eine weitere Episode hinterherschiebt, ob die Statue stehen bleibt oder fällt, wird sich erst nach dem 3. November zeigen.
BAND FÜRS LAND
von Oliver de Weert
POPULÄR Jimmy Carter baute auf die Kraft der Musik. Seine Sympathiewerte waren besser als die Bilanz seiner Präsidentschaft.
Zwischen Nummer 39 und Nummer 45 liegen gut dreieinhalb Jahrzehnte – und ein weites politisches und charakterliches Universum. Der Kontrast zwischen US-Präsident Donald Trump und seinem Amtsvorgänger von 1977 bis 1981, Jimmy Carter, könnte kaum größer sein. Der Demokrat aus dem Süden ist bis heute ein tiefgläubiger Versöhner, sein Einsatz für Frieden und Menschenrechte wurde 2002 mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt. Eine Auszeichnung, die er sowohl für das 1978 geschlossene israelisch-ägyptische Abkommen von Camp David erhielt als auch für sein humanitäres Engagement nach seiner Amtszeit.
Trotz aller heutigen Popularität des mittlerweile 96-Jährigen: Seine Präsidentschaft galt unterm Strich als eher glückloses Kapitel. Als er den Chefsessel im Weißen Haus eroberte, standen die USA noch im Bann der Watergate-Affäre von Richard Nixon. Carter, der Erdnussfarmer aus Georgia, erfüllte die Sehnsucht nach einer integren Persönlichkeit. Am Ende der Präsidentschaft wirkte er hilflos gegen den Ölpreisschock, der die Amerikaner daheim an den Tankstellen ebenso erschütterte wie die Demütigung einer quälend langen Geiselnahme in der Teheraner US-Botschaft nach der iranischen Mullah-Revolution von 1979. Bei der Wahl 1980 wurde Carter denn auch abgestraft und verlor gegen den Herausforderer Ronald Reagan. Selbst die Freundschaft mit vielen Musikstars, die ihn bei den Wahlen vier Jahre zuvor nach Kräften unterstützt hatten, konnte ihn nicht retten.
Die Einsamkeit des ehemals mächtigsten Mannes der Welt zeigt der ARTE-Dokumentarfilm „Jimmy Carter: Der Rock’n’Roll-Präsident“. In schweren Stunden zog er sich mit den Liedern seines Freundes Willie Nelson zurück. Nicht nur die Country-Legende zählte zum musikalischen Inner Circle des Präsidenten. Auch Dizzie Gillespie trompetete die Botschaft von der integrativen Kraft des Jazz vom Weißen Haus aus in die US-Wohnzimmer. Noch heute glaubt Carter fest an die Musik als Band, das die Nation zusammenhält.
Wie nachhaltig er an einer anderen musikalischen Vorliebe hängt, illustriert eine weitere Szene des Dokumentarfilms. Fast zärtlich setzt Carter darin den Tonarm auf eine Schallplatte. Bob Dylan singt „Mr. Tambourine Man“. „Klingt vertraut“, sagt der Ex-Präsident und setzt dabei sein unwiderstehliches Jimmy-Carter-Lächeln auf.