»Das Alte respektieren – und in eine Zukunft überführen«
– Martin Henn, Architekt
Der Head of Design und Geschäftsführer des Architekturbüros Henn am Alexanderplatz entwirft Gebäudetypen, die den Übergang von heute zu morgen markieren.
ARTE Magazin Herr Henn, von Ihnen stammt der Satz, dass gute Architektur sich auf den jeweiligen Kontext einlassen muss. Was heißt das im Fall von Berlin?
MARTIN HENN Berlin ist eine Stadt mit einer reichen Geschichte, die durchaus auch gelitten hat. Diese Vergangenheit ist sehr präsent in der urbanen Struktur: Bis heute gibt es Leerstellen von Gebäuden, die im Krieg zerstört wurden – zum Beispiel in den traditionellen Berliner Blocks. Das ist die besondere Herausforderung für Architektinnen und Architekten: das Alte zu respektieren und teilweise wiederherzustellen – und gleichzeitig in eine Zukunft zu überführen.
ARTE Magazin Lassen sich in Berlin noch Visionen verwirklichen?
MARTIN HENN Absolut. Berlin ist zugleich ein Ort der Zukunft, der sich ständig neu erfindet und dynamisch ist. Das hängt auch mit der Tech-Branche zusammen, die sich nach der Wende hier angesiedelt hat und stark gewachsen ist. Ein Beispiel ist das Internet-Unternehmen Zalando, das 2018 als Start-up gegründet wurde und anfangs auf diverse Berliner Hinterhöfe aufgeteilt war. Wir haben gemeinsam mit dem jungen Team einen Campus nahe der Benz-Arena in Friedrichshain entwickelt. Bei der Planung war die Entscheidungsfreude spürbar und eine gewisse Informalität, die typisch für diese Stadt ist.
ARTE Magazin Wie reagiert Architektur auf den digitalen Wandel?
MARTIN HENN Das klassische Bürogebäude hat ausgedient, das ist spätestens seit der Pandemie klar. Viele Unternehmen reduzieren ihre Flächen; die leer stehenden Bürogebäude können für Wohnzwecke umgebaut werden. Durch den Onlinehandel kommt es außerdem zu einem Leerstand von Warenhäusern. Jüngstes Beispiel ist das Kaufhaus Galeries Lafayette in der Friedrichsstraße: Es wird diskutiert, ob dort die Landesbibliothek einziehen soll. Die Frage, wie wir mit den bestehenden Flächen intelligent umgehen und sie eventuell umnutzen, wird uns als Architekten in Zukunft sehr beschäftigen.
»Berlin muss das Ruder herumreißen«
– Katharina Grosse, Künstlerin
Gehört zu den wichtigsten Malerinnen der Gegenwart. Sie lebt in Berlin und Neuseeland
ARTE Magazin Frau Grosse, was bedeutet Berlin für Sie und Ihre Kunst?
KATHARINA GROSSE Mir gefällt, dass der Himmel hier so weit ist. In Berlin ist alles flach und leicht zu erreichen. Die Stadt hat so viele Brüche, dass ich immer das Gefühl habe, es kann etwas Neues daraus hervorgehen. Diese Freiheit und Offenheit habe ich auch in den 1970er Jahren gespürt, als Berlin noch wie eine Insel dalag, in sich gekehrt und umschlossen von der DDR.
ARTE Magazin Das Element des Unfertigen hat viele Künstler angezogen, gilt das heute noch?
KATHARINA GROSSE Leider hat man bei der Verdichtung der Stadt wenig fantasievoll gearbeitet. Das Schloss ist die Krönung der verpassten Möglichkeiten. Berlin könnte das Offene und das Veränderbare opulent kultivieren und wirklich ganz anders aussehen. So viele interessante Leute kommen von außen hierher und bringen ihre Ideen mit. Neben der etablierten Kunstszene gibt es großartige Initiativen der freien Szene, wie das Project Space Festival, das Sellerie Weekend oder die Plattform The Fairest. Alles Beispiele für die ungeheuer vitale Kunstlandschaft in Berlin.
ARTE Magazin Was muss passieren, damit die Stadt ein Kunstmagnet bleibt und keine beliebige Großstadt wird?
KATHARINA GROSSE Berlin muss jetzt das Ruder herumreißen. Und für Künstlerinnen und Künstler Wohnraum und Arbeitsraum in der Stadt schaffen, erhalten und bezahlbar machen. Außerdem ist es von großer Bedeutung, dass die Institutionen mutig, visionär und ambitioniert ihre Arbeit entwickeln und befragen. Sie müssen zeigen, dass die Kunstschaffenden unverzichtbar sind, weil sie aus der Zukunft gedachte Vorschläge anbieten. Berlin braucht eine visionäre Politik, die sich der Magie dieses kulturellen Einflusses bewusst ist. Ich finde auch, dass wir alle mehr dazu beitragen sollten, die Stadt als ein gemeinsames Feld zu erleben. Wir sollten die Stadt liebevoller behandeln. Wo bleibt das Flussschwimmbad?
»Was hier entsteht, soll für die ganze Stadt beispielhaft sein«
– Frank Wolters, Geschäftsführer Tegel Projekt
Der Manager leitet die Landesgesellschaft, die den Ex-Airport zur Zukunftsstadt der Wirtschaft und Wissenschaft entwickeln soll.
Auf dem früheren Flughafen Tegel wird in den nächsten 25 Jahren ein 200 Hektar großer Forschungs- und Industriepark wachsen, die Urban Tech Republic. Ein Experimentierfeld und Eroberungsraum für urbane Technologien. Was hier entsteht, soll für die ganze Stadt beispielhaft sein. Das gilt auch für das benachbarte Schumacher Quartier mit 5.000 überwiegend in Holzbauweise geplanten Wohnungen. Die Ideen dafür werden nebenan entwickelt. Das betrifft eine möglichst autarke Energieversorgung mithilfe von Abwasser, Geothermie, Sonne und Wind ebenso wie die Digitalisierung. Von uns gestaltete multifunktionale Lichtmasten werden mit Sensorik ausgestattet und ermöglichen so z.B. die Erfassung von Umwelt- oder auch Verkehrsdaten auf dem Areal. In unserer Datenplattform „FUTR HUB“ verarbeiten wir Geodaten – z.B. zum Wetter und der Wassernutzung. Markante Flughafengebäude wie der Tower oder das Hexagon, durch das man als Passagier gegangen ist, bleiben als Baudenkmäler erhalten. Sie sind eine Herausforderung bei der energetischen Sanierung und der Unterbringung von Technologie- und Gründerzentren oder Kollaborationsräumen. Es ist aber sinnvoll, Bausubstanz nicht zu vernichten, sondern zu ertüchtigen. Aus dem Hangar etwa wird eine mindestens in Deutschland einzigartige Feuerwehrakademie. Die ersten Unternehmen arbeiten bereits im Bestand. Neu gebaut wird unter anderem ein sogenanntes Industrieband. Aber da kommt nichts rein, was qualmt und stinkt, sondern nachhaltige, ökologische Produktion – grüner Wasserstoff wäre denkbar. Die 20.000 Menschen, die hier arbeiten sollen, werden auch nicht mit dem Auto kommen, sondern mit einer intelligenten ÖPNV-Lösung. Außerdem sind überall breite Fahrradverbindungen vorgesehen. Das internationale Interesse am Projekt ist groß – von Skandinavien bis Südostasien.
»Die Verkehrswende wird den Alltag verändern«
– Janna Aljets, Projektleiterin Agora Verkehrswende
Die Politikwissenschaftlerin arbeitet bei dem Berliner Thinktank an Konzepten für eine ökologische und soziale Mobilität.
ARTE Magazin Frau Aljets, womit werden wir uns, sagen wir in zehn Jahren, durch die Stadt bewegen?
JANNA ALJETS Kurios, dass dabei viele an technologische Innovationen wie Flugtaxis oder gleich ans Beamen denken. Gerade in der urbanen Mobilität mit vielen kurzen Strecken werden wir überwiegend bewährte Verkehrsmittel nutzen. Mit einer Verschiebung: Fuß- und Radverkehr nehmen zu, der öffentliche Nahverkehr entwickelt sich digitaler. Wir werden vielseitiger unterwegs sein, also sinnvoll Verkehrsmittel wechseln. Berlins „Jelbi“-App ist ein guter Anfang, London oder Amsterdam sind schon weiter.
ARTE Magazin Wie werden die Räume neu verteilt?
JANNA ALJETS Die Dominanz individueller Mobilität mit Verbrenner-Pkws hat keinen Platz mehr, sie ist nicht effizient. Wenn, dann wird es geteilte Autos mit elektrischem Antrieb geben. Die Zivilgesellschaft sorgt gerade dafür, dass das Fahrrad mehr Platz bekommt. Immer mehr Menschen ziehen in die Stadt, öffentlicher Raum ist begrenzt und wertvoll. Wir brauchen wegen des Klimawandels grünere und blauere Städte, mit Grünflächen und Wasser-Infrastruktur.
ARTE Magazin Ist die Einsicht dafür vorhanden?
JANNA ALJETS Den privilegierten Platz fürs Auto finanzieren im Moment alle. In einer multimodalen Zukunft wird das gerechter aufgeteilt. Die Angebote müssen dabei gut und bequem nutzbar sein. Wir wissen jedoch aus Studien, dass eine bloße Angebotsverbesserung nicht dazu führt, dass die Leute umsteigen. Es braucht Anreize und Nachdruck, Pull und Push. Vor allem aber eine ehrliche Kommunikation, denn die Verkehrswende wird den Alltag verändern. Diese Transformation muss die Politik offen ansprechen. Und mutig angehen: etwa Straßen einmal pro Woche zu Spielstraßen erklären.
»Barrierefreie Bürgernähe statt bornierter Bürokratie«
– Michaela Dudley, Kabarettistin, Journalistin und Autorin
Die gelernte Juristin erlebte Berlin wohl vor dem Mauerfall. Sie ist Autorin des Buches „Race Relations: Essays über Rassismus“ (2022).
Als Berliner trans*Frau mit afroamerikanischen Wurzeln erlebe ich die Metropole an der Spree aus diversen Perspektiven. 1961 erblickte ich das Licht der Welt, und zwar im Schatten der Freiheitsstatue. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten war für mich als Schwarze, queere Person eher ein Land unmöglicher Begrenzungen. Schon dadurch war ich auf die eingemauerte Stadt Berlin vorbereitet. Für mich gehört es zum Leben, Mauern zu durchbrechen, mit dem Kopf an und durch die Wand zu gehen. Frau braucht dafür viel Aspiration – und auch viel Aspirin!
Mein Vater war Kampfveteran der US Air Force. Verwandte waren an der Berliner Luftbrücke beteiligt, beide meiner Schwarzen Omas schickten Care-Pakete nach West-Berlin. Am Tage meiner Geburt stand ein Vetter als GI am Checkpoint Charlie, während sowjetische und amerikanische Panzer einander ins Visier nahmen. Angesichts dieser Vorgeschichte ehrte und rührte es mich, im November 2022 im Schöneberger Rathaus die Keynote-Rede zum Diversity-Festival CrossKultur zu halten. Nur wenige Meter entfernt hatte John F. Kennedy 1963 proklamiert: „Ich bin ein Berliner.“
Und ich bin eine Berlinerin – eine, welche die Vielfalt am eigenen Leibe verkörpert. Diese Gesellschaft wird bunter, so sehr Ewiggestrige auch dagegen kämpfen. Eine Weltstadt wie Berlin, die mit Begriffen wie „Inklusion“ um sich wirft, muss ihre Institutionen so gestalten, dass sie tatsächlich offen werden und bleiben. Barrierefreie Bürgernähe statt bornierter Bürokratie. Baufällige Denkstrukturen gehören genauso abgerissen wie altersschwache Gebäude. Denkmäler sind gut, gerade als Schutzwall gegen die demokratiegefährdende Geschichtsvergessenheit. Wir brauchen jedoch auch Denkweisen, die uns eine gerechtere Gegenwart ermöglichen. Berlin, einst teutonische Tempelstadt und Trümmerwüste, ist ein verkannter Garten mit großem Potenzial. Es ist unsere Aufgabe, diesen brachliegenden Kartoffelacker in ein buntes Gefilde zu verwandeln. Biodiversität stärkt die Gesellschaft, und die Historie dieser Hauptstadt zeugt von der Bedeutung multikultureller Zusammenarbeit. Ohne die Würdigung unserer weitverzweigten Wurzeln gibt es keine gemeinsame Zukunft. Das größte Vermögen Berlins ist die Bevölkerung selbst. Ihre Bedürfnisse nach bezahlbaren, lebenswerten Wohnräumen dürfen also nicht weiter ignoriert werden. Denn diese Menschen bescheren der Stadt einen Wohlstand, von dem sie und ihr Nachwuchs endlich profitieren sollten.
»Die Berliner Clubszene ist ein Sorgenkind«
– Marcel Weber, Vorstandsvorsitzender der Clubcommission Berlin
Der Geschäftsführer des SchwuZ, Berlins ältestem Queer Club, setzt sich für die Clubkultur ein.
ARTE Magazin Herr Weber, worin liegt die Anziehungskraft der Berliner Clubszene?
MARCEL WEBER Wir haben in Berlin das große Glück, eine riesige Auswahl an Clubs zu haben. Da ist an sieben Tagen der Woche für jeden etwas dabei. Die unglaubliche Vielfalt und die kreative Freiheit, die diese Orte ausmachen, sorgen immer wieder für magische Erlebnisse. Musikalisch war die Stadt schon immer ein Sehnsuchtsort – von Elektro und Pop bis zu Independent und Experimentellem ist alles dabei. Hinzu kommen die vielen Clubs für Live-Auftritte.
ARTE Magazin Trotzdem liest man immer wieder Abgesänge auf das Nachtleben der Hauptstadt.
MARCEL WEBER Aktuell ist die Berliner Clubszene ein Sorgenkind. Die Coronapandemie hat uns stark getroffen und wegen der hohen Inflation konnten sich die Clubs kaum erholen. Die meisten klagen über zu wenig Besucher und Touristen, um die gestiegenen Betriebskosten zu decken. Ein Teufelskreis: Die Eintrittskosten müssen erhöht werden, aber immer weniger können es sich leisten.
ARTE Magazin Was muss getan werden, damit die Clubszene, wie man sie kennt, eine Zukunft hat?
MARCEL WEBER Wir benötigen dringend Unterstützung aus der Politik: Eine Form der Spielstättenförderung könnte zum Beispiel viele Existenzen sichern. Wir setzen uns dafür ein, dass die Berliner Clubszene eine ähnliche Stellung wie die Hochkultur, etwa Theater oder Museen, erreicht. Derzeit erhalten Opernhäuser eine jährliche staatliche Unterstützung von 44 Euro pro Einwohner. Wenn wir nur ein paar Euro pro Einwohner in unsere Clubs investieren würden, dann wäre das schon eine enorme Hilfe.