Ein dumpfes Knacken im Geäst, gefolgt von Stille. Langsam zieht der erdige Duft durch die Nase in die Lunge, breitet sich aus. Auf der Haut kalt-feuchte Luft, dunkles, sattes Grün vor den Augen. Den Wald mit allen Sinnen zu erleben ist kostbar – und durch den Klimawandel zugleich so bedroht, dass es uns beim Gedanken daran die Luft abschnüren müsste. Denn ohne Wälder würden Kontinente im Inneren austrocknen, würden Hitze und Dürre uns verdursten und verhungern lassen, gäbe es keinen Sauerstoff mehr, den wir atmen könnten.
Der Wald ist ein Mythos. Im kollektiven Bewusstsein der Deutschen erzählt er schon immer Geschichten, hat Narben, eine Seele. Und erlebte mit uns viele Höhen und Tiefen. Als der Geschichtsschreiber Publius Cornelius Tacitus um das Jahr 100 n. Chr. in seinem Werk „Germania“ als erster Mensch die Beschaffenheit Deutschlands festhielt, schrieb er, offensichtlich wenig verzückt: „Das Land zeigt zwar im Einzelnen einige Unterschiede; doch im Ganzen macht es mit seinen Wäldern einen schaurigen, mit seinen Sümpfen einen widerwärtigen Eindruck.“ Mit diesen Worten prägte er das Bild eines dunklen, grässlichen Ortes – und damit das deutsche Verständnis von Wald. Damit war weniger die Natur selbst gemeint, sondern die Emotion, die der Wald auslöste: die Angst vor dem Dunklen, Unbekannten, dem Unheimlichen, gar vor der düsteren Seite des Menschen.
In Volksmärchen folgender Jahrhunderte verirren sich Hänsel und Gretel im Wald, in dem eine Hexe wohnt. Rotkäppchen begegnet inmitten der Bäume dem bösen Wolf, Schneewittchen lebt im Wald, wo sie von der Stiefmutter heimgesucht wird. Der Wald ist nicht Heimat, sondern Kulisse für ein Abenteuer, in dem jeder – oft eine ausgestoßene Figur – auf sich selbst gestellt ist. Erst ab dem späten 18. Jahrhundert bekam ebendieses Abenteuerliche einen besonderen Reiz: Für Schriftsteller und Maler der Romantik wurde die Natur zum träumerischen Sehnsuchtsort und Gegenstück zur durchrationalisierten Gegenwart. Dichter wie Ludwig Tieck und Joseph von Eichendorff prägten den Begriff der „Waldeinsamkeit“ – die absolute Verbundenheit des Seins mit dem Wald, der Natur. Auf der Leinwand verewigten Maler wie Caspar David Friedrich dieses Motiv. Gerade im Angesicht der beginnenden Industrialisierung und der damit einhergehenden Nachfrage an Holz galt der Wald im Kunstmärchen als Rückzugsort oder Traumwelt, etwa in „Das kalte Herz“ (1827) von Wilhelm Hauff.
Wenn die Bäume sterben, sterben die Menschen.
Zwei Drittel Wald abgeholzt
Als Tacitus über die deutschen Wälder schrieb, war das, was heute Deutschland ist, noch größtenteils von Wäldern bedeckt. Im Mittelalter stieg der Bedarf an Holz dann so sehr, dass zwei Drittel des Waldbestands abgeholzt wurden. Die Waldgebiete aus jener Zeit – vorwiegend Eichen und Buchen – ähneln grob denen, die wir heute kennen. Noch immer geben Ortsnamen Hinweise auf Flächen, die gerodet wurden: im Zentrum durch die Endung -rode, im Westen -rath, im Norden -rade.
Im 19. Jahrhundert boomte die Industrie, zugleich entstanden größere Städte, deren Bewohner sich nach Erholung in der Natur sehnten. Aus diesen Gründen pflanzte man schnellwachsende Kiefern- und Fichtenmonokulturen: Bäume, die eigentlich nicht in Deutschland, sondern im borealen Nadelwald auf der Nordhalbkugel der Erde vorkommen, etwa in Alaska oder Russland.
Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts klar wurde, dass solche Eingriffe in die Natur nicht folgenlos blieben, kamen in Deutschland erste Naturschutzbewegungen auf. Diese wurden jedoch von den Nationalsozialisten für ihre eigene Ideologie instrumentalisiert: „Naturschutz ist Heimatschutz“, propagierte das Reichsforstamt unter Reichsjägermeister Hermann Göring. Stärke und Beständigkeit des Waldes standen symbolhaft für das rechtsextreme, völkische Ideal einer Gesellschaft.
Wie krank die Wälder im Verlauf des 20. Jahrhunderts durch Industrie- und Autoabgase geworden waren, verstand man in Deutschland erst ab den 1980ern: Die Forschung schärfte das Bewusstsein für das Ozonloch und die Auswirkungen des sauren Regens. Angst vor einem Waldsterben führte zum ökologischen Umdenken – und zur Gründung der Partei „Die Grünen“.
In den 2000ern schien es nahezu still zu werden um den Wald. Bis der deutsche Förster Peter Wohlleben mit seinem Buch „Das geheime Leben der Bäume“ 2015 einen Bestseller schrieb. „Ich hätte nie damit gerechnet, dass das Buch so ein Erfolg wird. Auch weil das mediale Interesse im Vorfeld so gering war“, sagt Wohlleben. „Das Thema Wald stand vor vier Jahren noch nicht so sehr im Fokus einer Klimabewegung, die meisten fanden es eher langweilig.“ In seinem Buch erklärt der Förster das Phänomen, wie Bäume unterirdisch miteinander kommunizieren, über ihre Wurzeln und mithilfe weit verzweigter Pilzgeflechte. Wie eine Familie kümmern sich ältere Bäume um jüngere, rufen um Hilfe, wenn sie Wasser brauchen. Erneut wird der Wald im kollektiven Bewusstsein mit einer Empfindung belegt. „Das berührt jeden emotional, ist ein globales Thema“, so Wohlleben.
Training für die Killerzellen
Inzwischen haben Forscher rund 2.000 verschiedene „Wörter“, also unterschiedliche Kohlenstoffverbindungen, identifiziert, mit denen Bäume untereinander kommunizieren. Mehrere 100 Liter Wasser kann ein Baum von den Wurzeln zu den Blättern transportieren – täglich. Aufgrund des Kapillareffekts steigt das Wasser durch dünne Leitungen nach oben, Verdunstung auf den Blättern sorgt für einen Sog. Wie viel Wasser dafür über die Blätter verdunsten muss, teilen die Wurzeln der Baumkrone mit. Forscher aus Arizona haben festgestellt, dass der Kapillareffekt bis zu 130 Meter weit funktioniert – daher erreichen Bäume hier ihre maximale Höhe.
Nicht nur die Kommunikation der Bäume fasziniert, auch das, was Bäume mit Menschen machen. In Japan bildet Waldmedizin einen eigenen Forschungszweig. Als Vorreiter gilt Qing Li, Professor an der Nippon Medical School in Tokio und Präsident der japanischen Gesellschaft für Waldmedizin. Er prägte den Begriff des Waldbadens, auf Japanisch Shinrin Yoku. Damit meint er den Aufenthalt im Wald, etwa durch einen Spaziergang oder Yoga. In „Die wertvolle Medizin des Waldes“ (2018) fasst Li eigene Studien mit denen anderer Forscher zusammen. Demnach erhöht der Aufenthalt im Wald die Schlafdauer und -qualität. Zudem hebt Waldbaden die Stimmung. Und: Phytonzide, also jene duftenden Stoffe, die Bäume absondern, um sich vor schädlichen Bakterien, Insekten und Pilzen zu schützen, nehmen wir im Wald über Haut und Lunge auf. So erhöht sich beim Menschen die Anzahl der körpereigenen Killerzellen, die etwa Tumorzellen abtöten. Waldbaden stärkt also das Immunsystem und beugt Krebs vor. Ein Effekt, der lange anhält, wie Li herausfand: „Ein einziger Waldbade-Ausflug im Monat genügt, um die Aktivität auf hohem Niveau zu halten.“
Für den Menschen bedeutet Wald: Schutz, für Körper und Seele. Umso beängstigender wirkt der Klimawandel. Die in Deutschland angesiedelten Fichten und Kiefern sind im Vergleich zu einem natürlich gewachsenen Wald aus Buchen, Eichen und anderen Arten schwach und halten Stürmen nicht stand. Dass der Borkenkäfer große Flächen zerstört, liegt auch daran, dass die durch anhaltende Dürre gestressten Bäume nicht stark genug sind, um ihn abzuwehren.
Ein stabiles System, das Wetterextremen standhält, bieten Urwälder, seit jeher von der Forstwirtschaft unberührt. Doch sie sind selten. Einige gibt es in den Tropen, aber auch in Europa existieren sie noch, etwa im BiałowieŻa-Nationalpark in Polen. Echten Urwald gibt es in Deutschland nicht, lediglich Gebiete, die man wieder sich selbst überlässt. Der Nationalpark Bayerischer Wald, 1970 gegründet, gehört dazu.
Im Kunstmärchen „Der blonde Eckbert“ (1797) von Ludwig Tieck singt ein Vogel über die Waldeinsamkeit: „Die mich erfreut / In ewger Zeit“ … „Mir geschieht kein Leid“. Damit fanden Tieck und andere Künstler der Romantik schon früh Worte für ein Gefühl, das Forscher zunehmend und weltweit mit Fakten stärken: dass der Wald Teil von uns allen ist, unverzichtbar, schützens- und erhaltenswert. Und dass der Mensch mit jeder Zerstörung des Waldes auch ein Stück von sich selbst zerstört.