Kurz bevor Roberto Alagna auf die Bühne tritt, verschmilzt der Sänger mit seiner Rolle. Der Tenor sitzt in der holzgetäfelten Garderobe der Wiener Staatsoper und verwandelt sich in Canio, den Clown aus Ruggero Leoncavallos „Bajazzo“. „Den lachenden Komödianten, der seinen wahren Schmerz nicht zeigen darf, kennen wir alle“, sagt Alagna. „Seit 37 Jahren stehe ich auf der Bühne. Wie oft bin ich da rausgegangen, habe gelacht, gespielt und gesungen – obwohl es in mir ganz anders aussah.“
Roberto Alagna ist kein Tenor wie viele andere, kein Sänger, der andauernd näselt oder sich permanent räuspert, um seine Stimmbänder zu testen. Roberto Alagna ist eine Naturgewalt. „Ich muss einfach singen“, sagt er, „schon als Kind habe ich beim Essen gesungen, und meine Mutter musste mich andauernd ermahnen: ‚Robertino, hör eine Sekunde auf zu singen, dann kannst du wenigstens ein bisschen essen.‘“ Für ihn ist das Singen wie Atmen. Irgendwann nicht mehr auf der Bühne stehen zu können, ist für ihn unvorstellbar.
„Es ist absurd, wie lange ich das Künstlerleben schon lebe“, sagt der Sänger und schmiert sich währenddessen weiße Farbe ins Gesicht. „Auf was ich für das Singen alles verzichtet habe!“ Ein Gedanke, den er im Lockdown öfter hatte. Plötzlich saß der Globetrotter allein mit der Familie in seiner Wohnung in Frankreich. Anders als erwartet, hat er die Situation durchaus genossen.
„Der Lockdown hat mir gezeigt, was ich längst vergessen hatte“, sagt er, „was wirklich wichtig ist im Leben, was einen Künstler wirklich ausmacht: der Halt, die Zufriedenheit, das Glück und die Unterstützung der Familie. Ich hatte oft Angst vor dem Ende meiner Karriere. Davor, nicht mehr singen zu können. Jetzt weiß ich, dass ich das genießen kann – zu Hause zu sein, zu kochen, zu lesen, zu lachen und zu spielen.“
Der Clown, den Roberto Alagna im Lockdown gegeben hat, etwa in seinem legendären Livestream für die Metropolitan Opera, als er den Nemorino aus Donizettis „Liebestrank“ gesungen hat, mit Klampfe, gespielter Betrunkenheit und Klettereinlage auf seinem Bücherregal, dieser Clown, der an der Seite seiner Frau aufgetreten ist, trug keine Maske. Es war der ungeschminkte Roberto Alagna. Der Künstler als Mensch.
„Die Oper ist kein leichtes Geschäft“, sagt Alagna, während er in den Spiegel schaut, „und es wird immer schwerer: Agenten, Intendanten und Dirigenten brauchen Superlative und nehmen nur wenig Rücksicht auf die Zerbrechlichkeit der Stimme.“ Sechsstündige Proben, nächtliche Anreisen oder das Streichen von aufführungsfreien Tagen seien an der Tagesordnung. „Es ist unsere eigene Verantwortung, in diesem Spiel auch mal ‚Nein!‘ zu sagen. Das ist wichtig.“
Die Oper ist kein leichtes Geschäft und es wird immer schwerer
Vorliebe für provokante Lesarten
Nur wenige Tenöre haben eine so lange und beständige Karriere wie er. Weil Roberto Alagna sich Zeit genommen hat. Auf die Opern von Richard Wagner hat er bis heute gewartet. Eigentlich wollte Alagna sein Debüt in „Lohengrin“bei den Bayreuther Festspielen geben, doch da stimmte die Chemie nicht. Nun ist es aber so weit, er wird den Lohengrin erstmals an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin spielen. Matthias Pintscher dirigiert, Sonya Yoncheva singt die Elsa, und ein alter Bekannter führt Regie: das geniale Theater-Enfant-terrible Calixto Bieito. Alagna hat schon in Bieitos „Carmen“ gesungen, und anders als einige seiner Kollegen liebt er neue, provokante Lesarten alter Opern. „Für mich ist es nicht wichtig, ob die Regie alt oder neu ist“, sagt er, „für mich stellt sich nur die Frage, ob sie Sinn ergibt.“ Während Alagna den Clown-Schlips anlegt, erklärt er: „Bieitos Inszenierungen ergeben in der Regel sehr viel Sinn und machen Spaß. Sie sind physisch und intellektuell herausfordernd. Das gefällt mir.“
Aber was verbindet den Sinnlichkeits-Menschen Roberto Alagna mit Wagners moralischem Gralsritter Lohengrin? Was interessiert den Tenor an der göttlichen Spaßbremse, an Wagners Schwanenritter, der seiner zukünftigen Frau verbietet, ihn nach seiner Herkunft und seinem Namen zu fragen? Roberto Alagna streift die gelbe Clowns-Jacke des Bajazzo über: „Mich interessiert der Mensch in diesem Mann, seine Sehnsucht nach Liebe, seine moralische Zerrissenheit, vor allen Dingen aber fasziniert mich die musikalische Gestaltung der Rolle.“ Und dann erzählt Alagna, wie viele Rollen er für unerreichbar gehalten hat, besonders die von ihm so geliebten Charaktere der Wagner-Opern. „Ich liebe Wagner, auch wenn er immer so fern schien. Heute fühle ich mich reif für Lohengrin.“ Dann schaut er noch einmal in den Spiegel, überprüft sein Kostüm und verlässt die Garderobe in Richtung Bühne. „Der Clown und der Gralsritter“, sagt er im Gehen, „sie sind sich ähnlicher, als man denkt: Beide sind nicht in der Lage, ihr wahres Gesicht zu zeigen.“