Digitaler Doppelgänger

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens verläuft eher schleppend. Dabei mangelt es nicht an kühnen Zukunftsvisionen, wie etwa die Serie „Charité“ zeigt. Wann wird aus der Utopie Wirklichkeit?

Illustration von einem Menschen, der auf einer glatten Oberfläche digital gespiegelt wird
Illustration: Andrea Ucini für ARTE Magazin

Auf dem hell ausgeleuchteten OP-Tisch liegt eine Frau – umgeben von Monitoren, die ihre Patientenakte und Vitalwerte darstellen. Eine Ärztin beugt sich über sie. Konzentriert klemmt sie die Bauchhöhle der Frau auf, wirft einen letzten Blick auf die Bildschirme und setzt dann einen Schnitt. Alarm. Hektisch sucht die Ärztin nach der Ursache einer plötzlichen Blutung, hantiert unter immer lauter werdendem Piepen in der geöffneten Bauchhöhle. Dann erkennt sie: verkalkte Beckenarterie. Laut ruft die Ärztin: „Simulation beenden!“ Die Patientin verschwindet vom OP-Tisch.

In der Realität hätte die folgenschwere Komplikation die Patientin vermutlich das Leben gekostet. Deshalb gibt es im Jahr 2049 Trainingssimulationen an dreidimensionalen Hologrammen, die menschliche Körper in all ihren Facetten lebensecht nachbilden. Zumindest sieht so die Zukunftsvision der vierten Staffel der Serie „­Charité“ aus, die ARTE im April zeigt. Demnach ist der Einsatz eines digitalen Zwillings – dem computergenerierten Abbild des Menschen als Summe seiner Daten – im berühmtesten Krankenhaus Deutschlands 2049 genauso selbstverständlich wie Organe aus dem 3D-Drucker, Trauma­therapie durch virtuelle Realität und Robotik im OP-Saal. Dabei werfen die Ideen der Serie allerlei neue Fragen in Bezug auf Medizinethik auf: So droht beispielsweise eine Gesundheitsreform, die den Menschen einen verpflichtenden Scorewert zuordnet, der zur Grundlage ihrer Behandlungsmöglichkeiten wird, die Gesellschaft zu spalten.

Charité – Staffel 4

Serie

Donnerstag, 4.4. —
20.15 Uhr
bis 2.7. in der Mediathek

„WIR WOLLEN GAR NICHT ERST KRANK WERDEN“

Blickt man auf das ganz reale Gesundheitswesen in Deutschland, wird schnell deutlich: Es steckt noch immer im 20. Jahrhundert fest. Per Fax versendete Arztbriefe und Röntgenbilder auf CD sind weiter gängig. Damit sich das ändert, soll die lange diskutierte elektronische Patientenakte – eine digitale Datenbank für Befunde, Laborwerte und Medikamentierungen – für Millionen Versicherte bis 2025 vollumfänglich zur Verfügung stehen. Zudem ist geplant, die medizinische Forschung in Deutschland mithilfe des Gesundheitsdatennutzungsgesetzes voranzubringen: Dabei sollen in einem geschützten digitalen Raum Gesundheitsdaten in pseudonymisierter Form für die Forschung zentralisiert zur Verfügung gestellt werden. „Damit heben wir einen Datenschatz“, sagt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Während die Kritiker der Digitalisierung die Privatsphäre und Selbstbestimmung von Patientinnen und Patienten massiv in Gefahr sehen, erhoffen sich viele Befürworter nicht weniger als einen Paradigmenwechsel in der Medizin. So beruhten Behandlungen bislang auf dem Prinzip „find and fix“ – Diagnostik und Therapie. Künftig sollen Krankheiten hingegen vorhergesagt werden, bevor sie überhaupt auftreten. „Wir wollen nicht nur besser diagnostizieren und schonender behandeln, sondern die Menschen sollen gar nicht erst krank werden“, sagt André T. Nemat, Gründer des Institute for Digital Transformation in Healthcare an der Universität Witten/Herdecke, im Gespräch mit dem ARTE Magazin.

Sind die Ideen der Serie „Charité“ also gar nicht so weit hergeholt? Nach Ansicht des Experten ließe sich vieles umsetzen, wenn Patientinnen und Patienten bereit wären, mitzuwirken. „Wenn wir lebenslang Daten von uns selbst erheben, erhalten wir ein immer genaueres Bild des Körpers“, sagt Nemat. Ein daraus erzeugter digitaler Zwilling könnte demnach dazu beitragen, dass jeder Patient eine individualisierte Therapie erhält, die auf seinen Körper, sein Genom und seinen Stoffwechsel abgestimmt ist. Datenbasiertes Monitoring ermögliche es zudem, so Nemat, Erkrankungsrisiken frühzeitig zu erkennen und Präventionsmaßnahmen durchzuführen.

Immer mehr Patientinnen und Patienten scheinen die fortschreitende Digitalisierung des medizinischen Angebots positiv zu sehen – und vermessen sich mit smarten Trackern selbst. 69 Prozent der Smartphone-Besitzer in Deutschland nutzten 2023 laut Bitkom Fitness- oder Gesundheitsapps. Nemat unterstreicht in diesem Zusammenhang: „Wenn Selbstvermessung zur Selbstverständlichkeit wird, wird aus sozialer Perspektive Prävention zur Pflicht.“ Bürgerinnen und Bürger müssten jedoch stets souverän entscheiden können, welche Daten zu welchem Zweck, für welche Dauer und von welchen Interessenten verwendet werden. „Dieser Zustand der digitalen Souveränität ist entscheidend, wenn wir aus der Dystopie der Digitalität für jeden Einzelnen eine Utopie machen wollen“, betont der Datenethikexperte.