Neurotisch, fromm und tölpelhaft soll er gewesen sein, ein leidenschaftlicher Tänzer und vor allem ein Genie, das seiner Zeit weit voraus war: der aus Oberösterreich stammende Komponist Anton Bruckner. Als Ältester von zwölf Kindern – von denen nur fünf das Erwachsenenalter erreichten – wurde er am 4. September 1824 in der Kleinstadt Ansfelden bei Linz geboren. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf; seine Kindheit verlief unspektakulär und bescheiden. „Es gibt nichts zu beschreiben, es ist nichts passiert“, sagte Bruckner einmal in einem Interview. Wie der ARTE-Dokumentarfilm „Der Komponist Anton Bruckner: Das rätselhafte Genie“ im September zeigt, änderte sich das jedoch schlagartig mit dem Tod seines Vaters.
Als der Musiklehrer im Jahr 1837 an Tuberkulose starb, brachte die Mutter den damals zwölfjährigen Anton Bruckner ins Stift St. Florian, wo er als Chorknabe aufgenommen wurde. Das Barockkloster, dessen Wurzeln bis ins 8. Jahrhundert reichen, galt da bereits als eine bedeutende Kultur- und Ausbildungsstätte und sollte der Ort werden, der Bruckners Leben wohl am meisten prägte. „Er musste sich im Kloster in eine Gruppe eingliedern und sich ohne Eltern durchbeißen. Die Liebe, auf die wir heute zu Recht viel Wert legen, hat er sicherlich nicht bekommen“, sagt Dirigent und Bruckner-Experte Gerd Schaller im Gespräch mit dem ARTE Magazin. „Das war eine sehr prägende Zeit für ihn und völlig überwältigend.“ Gleichzeitig erhielt Bruckner eine umfassende musikalische Ausbildung und widmete sich intensiv dem Orgelspiel. Noch immer erinnert die prachtvolle sogenannte Bruckner-Orgel in der Stiftbasilika an den virtuosen Organisten und Komponisten.
Von Zahlen und Zwängen
Das Stift St. Florian gehörte zu den wichtigsten katholischen Institutionen seiner Zeit. Bruckner, für den die Religion von großer Bedeutung war, fand hier Zuflucht und Seelenfrieden. „Er war ein sehr frommer Mensch. Auch seine Musik führt immer wieder in andere Sphären“, sagt Schaller. Dass er das oberösterreichische Kloster auch als letzte Ruhestätte wählte, zeigt, wie tief verbunden sich Bruckner mit dem Stift fühlte. „Er hat sogar Kontakt zur Nachbarstadt Steyr aufgenommen, damit er zumindest in der Nähe beerdigt wird, falls es im Stift St. Florian nicht klappt. Das Absichern war für Bruckner ganz wichtig.“
Für seine herausragenden Orgelimprovisationen wurde er bereits zu Lebzeiten international mit großer Begeisterung gewürdigt. Abseits der Musik galt Bruckner vielen Zeitgenossen allerdings als Sonderling. Er fiel nicht nur mit seinem asketischen und streng religiösen Lebensstil auf, sondern auch mit außergewöhnlichen Obsessionen: Blätter an Bäumen, Perlen an Frauenkleidern oder Fensterreihen an Gebäuden – sie alle musste Bruckner neurotisch zählen. Aus Angst, er werde wahnsinnig, ließ er sich von Ärzten sogar bescheinigen, dass sein Geist gesund sei.
Die Kontrollsucht zeige sich auch in seiner Musik, findet Schaller. „Bruckner hat sehr modular komponiert. In seinen Kompositionen ist er oft schematisch nach der schon zu damaligen Zeiten veralteten Sonatenhauptsatzform vorgegangen und hat nachgezählt, dass die Vierer-Perioden stimmen. Er hat immer Zahlen daruntergeschrieben.“ Als Bruckner im Alter von 41 Jahren seine erste Symphonie verfasste, fand diese beim Publikum keinen großen Anklang. Zu lang und zu kompliziert sei sie, hieß es. Die unkonventionellen Harmonien stießen auf Unverständnis. „Die Klangwogen waren neu für die damaligen Ohren. Man wollte sie angleichen an Wagner, denn damit war man schon sozialisiert“, erklärt Bruckner-Experte Schaller. Immer wieder sei Bruckner gesagt worden, er solle lieber Klavierauszüge machen und damit Geld verdienen. Für ihn keine Option. Damit seine Werke trotzdem aufgeführt wurden, ging er Kompromisse ein und ließ seine Musik immer wieder verändern. Dass Bruckner sich seines Talents allerdings durchaus bewusst war, zeigt einer seiner Briefe. Darin schreibt er: „Meine Musik ist nicht für jetzt gedacht, sondern für Kenner und für spätere Generationen.“ Im Laufe seines Lebens wurden die Werke visionärer, bisweilen sogar regelrecht futuristisch. Lange aufsteigende Melodien gepaart mit introspektiven Choralmotiven vermitteln Hoffnung und das Öffnen neuer Dimensionen. Mit seinem eigenen Tonuniversum hat Bruckner Klänge erschaffen, die viele nachfolgende Komponisten maßgeblich prägen und inspirieren sollten.