Liebe Colombe,
Du glaubst, schriebst Du letztens, eine heimliche Liebschaft könne so manche Beziehung retten. Dass ich über die Wirkung dieser Alchemie nicht aus Erfahrung sprechen kann, ist nicht der einzige Grund, weshalb ich mich nicht gleich dazu geäußert habe. Vielmehr musste ich zuerst die Verklemmung lösen, die sich einstellte, als ich dies las. Liebschaft? Heimlich? Himmel, was soll denn meine Frau denken, wenn sie mitbekommt, dass ich mich mit solchen Dingen befasse? Oder noch schlimmer: die Nachbarn? Allein der Gedanke erscheint mir verboten. Nur warum? Ich vermute, dass uns Deutschen schon in der Romantik eine Art Grundgesetz der Herzen eingeschrieben wurde: Liebe müsse unverbrüchlich sein, ein Leben lang und darüber hinaus. „Freundschaft ist eine Verbindung für die Erde“, so Friedrich Schlegel, „Liebe für die Ewigkeit.“ Große Worte, deren Wellen bis in die seichten Gewässer zeitgenössischer Schlager und TV-Schnulzen schwappen – und viele von uns daran hindern, die Liebe so leicht zu nehmen wie ihr. Allzu gut erinnere ich mich an die Austauschschüler aus der neu-aquitanischen Partnergemeinde, die jedes Jahr an unser Gymnasium kamen – und im Nu die Schule selbst, das Freibad und die elterlichen Partykeller von ihrer Verklemmung befreiten. Und während ich, ohne sie auch nur angesprochen zu haben, von einer Ehe mit der süßen Katja aus der Parallelklasse träumte, bis dass der Tod uns scheidet, knutschte sie im Zwielicht der Tanzfläche mit Pierre aus Thouars. Nun meine Fragen an Dich, liebe Colombe: Rührt euer berühmter Charme daher, dass ihr bei der Liebe, anders als wir, nicht an die Ewigkeit denkt, sondern an die Gegenwart? Verstehst Du, dass mich Minderwertigkeitskomplexe plagen, wenn ich an Pierre im Besonderen und an französische Männer im Allgemeinen denke? Und: Kannst Du mich irgendwie trösten?
Verklemmte Grüße,
Dein Dirk
Cher Dirk,
voilà, so leicht gerät man vom scherzhaften Geplänkel zum großen Melodram, beziehungsweise – literarisch gesprochen – von Marivauxʼ Komödie „Das Spiel von Liebe und Zufall“, die Generationen zum Schmunzeln brachte, zu Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“, der ebenso viele Schmerzen erdulden ließ. Ich sehe es jedenfalls so: In Wirklichkeit ist die Entführung Deiner Angebeteten durch einen offensichtlich pfiffigeren Konkurrenten, der ihr mit einem charmanten Akzent „Je t’aime“ ins Ohr flüsterte, äußerst romantisch. Zudem würdest Du Dich, hättest Du damals Katja zum Tanzen aufgefordert, womöglich heute sowieso nicht mehr an euren ersten Kuss erinnern. Insofern möchte ich, lieber Dirk, weniger Deine Tränen trocknen, als sie vielmehr vor Lachen fließen lassen. Nur ist es sicherlich nicht leicht, sobald Liebe mit Ewigkeit assoziiert wird, dem Ganzen noch Humor hinzuzufügen, vor allem nicht, da ihr Deutschen bekanntlich Dinge sehr genau nehmt. Als ich las, wie sehr Dich das bloße Durchspielen einer Affäre in Deinem Kopf (ernsthaft, nur im Kopf?) und der Gedanke an Reaktionen Deiner Frau und Nachbarn in Verlegenheit gebracht hat, musste ich loslachen. Wobei, wenn ich so recht darüber nachdenke – vielleicht war dies beabsichtigt und Du wolltest Dich nur über Dich selbst mokieren? Oder gar mit mir kokettieren? Was das Gespenst der Ewigkeit angeht, herrscht keine Eile. „Ich bin der Dunkle, – der Witwer, – ohne Trost“, beginnt ein berühmtes Gedicht von Gérard de Nerval. Und wenn der Tod und somit eine verlorene Liebe uns tatsächlich untröstlich machen, kann das Leben wiederum alles für uns parat halten. So könntest Du etwa eines Tages durch einen amüsanten Zufall der süßen Katja wiederbegegnen und sie fragen, ob sie sich noch an Pierre aus Thouars erinnert, während Du ihr tief in die Augen blickst. Und in der Zwischenzeit, falls es Dich tröstet, geht es nicht darum, die Liebe leicht zu nehmen, sondern vielmehr ihre magische Kraft anzuerkennen: das Leben leicht zu machen.
Also, auf zu unseren Liebschaften!
Colombe