Briefkolumne

Wie vertreibt man sich im Herbst die Zeit? Und was haben Glück und Zufall damit zu tun? Unsere Autoren suchen spielerisch nach Antworten.

Briefkolumne Illustration_Elisabeth Moch
Illustration: Elisabeth Moch

Liebe Colombe,

nie ist mir ein Sommer so kurz vorgekommen wie dieser. Ich könnte es nicht treffender sagen als der japanische Dichter Matsuo Bashō: „Im Sturm des Herbstes / Zerbrochen und so traurig / Der Maulbeerstrauch dort.“ Bald werden wir uns wieder in unsere Behausungen zurückziehen und die langen Abende bis zum nächsten Sommer totschlagen. Wir Deutschen kramen für diese Zwecke Gesellschaftsspiele aus dem Wohnzimmerschrank. Doch diese Bezeichnung, die Eintracht suggeriert, trügt: Allzu oft handelt es sich dabei um Hauen und Stechen. Bestes Beispiel: „Mensch ärgere dich nicht“. Es wurde in den Wintermonaten (wann sonst?) 1907 von ­Josef ­Friedrich Schmidt erfunden und hat seither, zumindest für die Dauer eines Abends, viele Familien entzweit – so auch meine. Ziel des lächerlich simplen Spiels ist es, mit vier Figuren das Feld zu umrunden und sie auf sicheres Terrain zu bringen. Über den Fortschritt entscheidet ein Würfel. Allerdings – und das ist der einzige, zweifelhafte Reiz – können die Figuren jederzeit von einem Gegenspieler, der auf dasselbe Feld zieht, aus dem Rennen geworfen werden. Das könnte man nun gleichmütig hinnehmen, mit einem Schulterzucken. Es ist doch nur ein Spiel! Doch diese Gelassenheit scheint uns Deutschen nicht gegeben: Wir rasten aus, hämmern mit der Faust auf das Brett und ziehen uns greinend aufs Zimmer zurück. Woran mag das liegen? Ich vermute, dass wir dazu neigen, den Zufall, der hier (und nicht nur hier) im Spiel ist, persönlich zu nehmen: Wir sehen ihn nicht als Glück des anderen an, sondern vor allem als unser ureigenes Pech. Zudem ist die Aufforderung „Mensch ärgere dich nicht“ wohl ähnlich kontraproduktiv wie „Denke nicht an einen weißen Elefanten“. Ich habe gelesen, dass das Spiel bei Euch „­Petits ­chevaux“ („Die kleinen Pferdchen“) heißt, was ungleich friedlicher klingt. Spielt Ihr es auch weniger verärgert?

Herbstliche Grüße,
Dein Dirk

Cher Dirk,

jetzt hast Du mich tatsächlich dazu gebracht, unser allseits beliebtes Nationalspiel zu spielen. Und dafür brauche ich nicht einmal Würfel. Ich will ehrlich mit Dir sein: Die Vorstellung, am Tisch zu sitzen und Spielfiguren auf einem Brett hin und her zu schieben, langweilt mich zu Tode. Dabei ist es mir fast gleich, ob es nun darum geht, kleine Pferdchen in Bewegung zu setzen oder die Fallen im „Jeu de l’Oie“ (zu Deutsch: „Gänsespiel“) zu durchkreuzen (63 Felder, zwei Würfel, ein Bauer pro Spieler); oder ob das Pech einen Spieler in den Brunnen wirft oder eine zufällig doppelt gewürfelte 6 einen Gegner aus dem Weg räumt. In meinen Augen besteht die wichtigste Eigenschaft von Gesellschaftsspielen – neben der Beschäftigung von Kindern an Regentagen – darin, dass wir lernen zu verlieren. Ohne zu schmollen oder zu murren. Je früher, desto besser. Denn, wenn wir Stéphane ­Mallarmé Glauben schenken wollen: „Ein Würfelwurf wird den Zufall niemals abschaffen“, so der Titel seines Gedichts aus dem Jahr 1897. Andererseits amüsiert mich Eure Tradition der Scharade, von der mir auch erzählt wurde. Aber der Wein muss schon großzügig fließen, bis ich anfange, einen Filmtitel oder eine berühmte Figur zu mimen. Und dann ist es eine Kunst, sich dabei ruhig zu verhalten. Genau genommen, ist unser liebstes Spiel zu Hause, bei Freunden oder Kollegen, in der Familie und im Fernsehen: „zustimmen/ablehnen“. Wir diskutieren mit Begeisterung über alles und setzen uns dabei großzügig über die Grundregeln der Konversation hinweg, um den anderen zu überzeugen – ohne immer zu versuchen, unserem Gesprächspartner zuzuhören. Der Beweis dafür ist, dass ich in meiner Aufregung Deine Frage nach dem Ärger übersehen habe. Übrigens habe ich gerade meinen Kaffee auf dem Computer verschüttet. Das ist zwar bloßes Pech, aber es hält meinen Ärger nicht auf. Über mich selbst. Wir sind also gar nicht so verschieden! Nur liebe ich den Herbst und seine Farben und das Gefühl eines warmen Pullovers auf meiner Haut.

Herzlich,
Colombe

Karambolage

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