Santa Clara, Kalifornien, 26. August 2016: Die ersten Töne der Nationalhymne erklingen im Levi’s Footballstadion beim Spiel der Green Bay Packers gegen die San Francisco 49ers. Alle erheben sich, legen die Hand aufs Herz: das Publikum, die Schiedsrichter und Spieler. Nur Colin Kaepernick, Quarterback der 49ers, bleibt auf der Bank sitzen. Es ist nicht das erste Mal, dass er das tut. Aber am 26. August wird seine Protestgeste erstmals bemerkt: Das Publikum ist empört, buht den Angriffschef aus.
Nach dem Spiel erklärt sich Kaepernick: „Menschen sterben sinnlos, weil dieses Land sein Versprechen nicht einhält, Freiheit und Gerechtigkeit für alle zu bieten.“ In ruhigem Tonfall spricht er von Polizeigewalt, strukturellem Rassismus und der Notwendigkeit, denen eine Stimme zu geben, die ihre eigene nicht erheben können. Er könne nicht für die Hymne eines Landes stehen, das sich diesen Problemen nicht stelle, sagt er.
Besonnen reagiert Kaepernick auf die Aufmerksamkeit, die seinem Widerstand zukommt. Als der Veteran Nate Boyer ihn darauf hinweist, dass seine Protestgeste von Militärs als respektlos wahrgenommen werden könne, sucht Kaepernick das persönliche Gespräch und eine Lösung: Statt während der Nationalhymne zu sitzen, beginnt Kaepernick zu knien. Er will damit deutlich machen, dass sein Protest Soldaten und Veteranen respektiert – trotz aller politischen Kritik. Doch was als beschwichtigende Geste gemeint ist, wird von Kritikern erst recht als Affront gewertet, da der Protest noch sichtbarer wird. Die Lage eskaliert: Wütende Fans verbrennen Kaepernick-Trikots und stellen Videos davon ins Internet. Dabei beschimpfen sie ihn als „Verräter“ und „Idiot“. Kaepernick kniet trotzdem weiter.
Er ist nicht der erste afroamerikanische Sportler, der die Nationalhymne als Vehikel für den Protest gegen Rassismus nutzt. Bei der Siegerehrung für den 200-Meter-Sprint bei den Olympischen Spielen in Mexiko 1968 nahmen Tommie Smith und John Carlos ihre Medaillen entgegen. Als die Nationalhymne begann, reckten sie je eine schwarz behandschuhte Faust in den Himmel. Der „Black Power Salute“ wurde zum Symbol der afroamerikanischen Freiheitsbewegung und verursachte einen Sturm der Entrüstung. Das Olympische Komitee suspendierte beide Sprinter. Zurück in den USA wurden Smith und Carlos offen angefeindet. Der Vorwurf: Politische Haltung, vor allem derart „militante“, habe im Sport nichts zu suchen. Sogar das liberale Time Magazine titelte „Zorniger, widerlicher, hässlicher“ und bezeichnete den „unerfreulichen“ Protest der zwei „launischen“ Sportler als „Theater des Absurden“.
Auch Superstar und Boxlegende Muhammad Ali verlor in den 1960er Jahren die Sympathien vieler US-Bürger aufgrund seiner politischen Haltung. Er verweigerte den Militärdienst und protestierte öffentlich gegen den Vietnamkrieg und Rassismus. Sein Weltmeistertitel wurde ihm aberkannt und Ali für Jahre gesperrt. Der Boxer fand deutliche Worte: „Die Weißen sind mein Feind, nicht die Vietkong, die Chinesen oder Japaner. Ihr seid meine Gegner, wenn ich Freiheit fordere. Ihr seid meine Gegner, wenn ich Gerechtigkeit fordere. Ihr seid meine Gegner, wenn ich Gleichberechtigung fordere.“ Alle drei Sportler – Smith, Carlos und Ali – waren durch die Bürgerrechtsbewegung politisiert worden. Sie entschieden sich gegen ein bequemes Leben im Windschatten des sportlichen Erfolgs und kämpften stattdessen gegen eine rassistisch geprägte Öffentlichkeit.
Knapp 50 Jahre später hat sich vieles geändert. Es wurden Gesetze etabliert, die der Benachteiligung von Afroamerikanern ein Ende bereiten sollten. Im Alltag aber sind Rassismus und Diskriminierung immer noch präsent – und brandgefährlich. Das sieht Kaepernick als zentrales Problem der amerikanischen Gesellschaft. „Menschen werden unberechtigterweise getötet und die Täter werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Sie erhalten bezahlten Urlaub dafür, dass sie Menschen umbringen. Das ist nicht richtig“, sagte er im oft zitierten einzigen Interview zu seinem Protest, das er am 26. August 2016 nach dem Spiel in der Kabine verschiedenen Journalisten gab.
Eines der Opfer, das Kaepernick benennt, ist der 17-jährige Trayvon Martin. Er war im Februar 2012 auf dem Heimweg vom Supermarkt, als das Mitglied einer Nachbarschaftswache ihn als verdächtig einstufte und bei einem angeblichen Handgemenge erschoss. Der Junge war unbewaffnet. Er hatte einen Fruchtsaft und Süßigkeiten gekauft. Der Täter wurde zwar angeklagt, aber freigesprochen und verkaufte später die Tatwaffe für 250.000 Dollar bei einer Internetauktion. Das Urteil gilt als Gründungsmoment der Bewegung Black Lives Matter. Vor allem über die sozialen Medien machen die Aktivisten auf Fälle wie den von Martin aufmerksam und erreichten damit auch Kaepernick.
Aus dem Quarterback ist spätestens mit dem Kniefall ein Aktivist für soziale Gerechtigkeit geworden. Ein meist schweigender Aktivist: Interviews gibt Kaepernick seit dem Spätsommer 2016 nicht mehr. Er hat gelernt, dass seine Aussagen von Kritikern verdreht werden und die Kraft der Bilder und Gesten größer ist. Sein Kniefall steht für sich: Aus einer Demutsgeste hat er eine Protestgeste gemacht. Wenn Kaepernick spricht, dann nur noch bei Preisverleihungen. Dort zeigt er, dass seine Politisierung nicht auf die Black-Lives-Matter-Proteste von 2013 beschränkt ist. Er stellt in seinen Reden Bezüge zur Bürgerrechtsbewegung her, zitiert afroamerikanische Ikonen wie den Autor James Baldwin oder Malcolm X. Auch Teile der US-Presse erkennen an, dass der Quarterback Traditionen fortsetzt. So titelte die New York Times: „Kaepernicks Knie und die Olympischen Fäuste sind durch die Geschichte verbunden.“ Ex-Sprinter John Carlos nannte Kaepernick in einem Interview bei Newsweek „den ikonischen Anführer für Bürgerrechte dieser Generation“.
„Shut up and play!“
In sportlicher Hinsicht hat der Protest Kaepernick vor allem Ärger eingebracht. Die National Football League, kurz NFL, will mit dem unbequemen Spieler nichts mehr zu tun haben: Seit der Saison 2016 kann er keinen neuen Verein finden. Er ist ein arbeitsloser Anführer. 46 der 50 meistgesehenen Fernsehsendungen in den USA sind NFL-Sendungen – 8,1 Milliarden Dollar setzte die Liga in der vergangenen Saison um. Das Geschäft läuft auch deshalb so gut, weil die NFL keine Reibungsfläche bietet. „Shut up and play!“ („Halt’s Maul und spiel!“) ist das inoffizielle Motto, das den Spielern mit aufs Feld gegeben wird. So können konservative, weiße Amerikaner den Sport genießen und darin sogar eine Bestätigung dafür sehen, dass auf Hautfarbe basierende Diskriminierung der Vergangenheit angehöre. Schließlich ist die Mehrheit der Footballprofis afroamerikanisch. Die Spieler verdienen Millionen, sind echte Stars. Es ist verlockend, diese Ausnahmeerfolge mit allgemeiner Gleichberechtigung gleichzusetzen, doch die Realität ist eine andere. Von den Milliardenumsätzen, die die Spitzenleistungen der Athleten einbringen, landet ein Großteil in den Taschen der Teambesitzer. Und im Jahr 2017 waren 30 der 32 Besitzer der NFL laut einer Studie des Instituts für Diversität und Ethik im Sport weiß. Gerade sie üben nicht nur innerhalb des Sports Macht aus. Sie mischen auch in der Politik mit. So unterstützten zahlreiche Teambesitzer Donald Trump während des Wahlkampfs 2016 mit Geldspenden. Zu Kaepernick fand Trump klare Worte: Er nannte ihn öffentlich einen „son of a bitch“ („Hurensohn“).
Trotz Diffamierung von höchster Stelle und Machtgefälle: Der „Kaepernick-Effekt“ hält an. Immer mehr Athleten knien inzwischen, um gegen Rassismus zu protestieren. So auch Fußballerin Megan Rapinoe. Bereits 2016 kniete sie zur Nationalhymne und weigert sich seither, sie mitzusingen – selbst bei der Weltmeisterschaft in Frankreich. Sie und andere Sportler sorgen dafür, dass Kaepernick nicht in Vergessenheit gerät, auch wenn er selbst nicht mehr auf dem Footballfeld kniet.