Belfast, 2021: Randalierer werfen Ziegelsteine auf Polizisten sowie Brandbomben und Feuerwerkskörper auf Autos. Nordirland befindet sich im Ausnahmezustand, die alten Konflikte zwischen Protestanten und Katholiken, die das Land bis heute spalten, brechen wieder auf. An den sogenannten Friedensmauern, die das protestantisch-unionistische Wohnviertel und die katholisch-republikanische Gegend trennen, fliegen Molotowcocktails. Kevin McArevey, Schulleiter an einer katholischen Grundschule in dem sozial abgehängten Arbeiterviertel Ardoyne, will seinen Schützlingen die tief in der Gesellschaft verwurzelte Gewalt erklären. Dabei möchte er sie gegen die Versuchung wappnen, sich selbst in den Konflikt hineinziehen zu lassen. Kriminalität und Drogensucht sind in seinem Viertel weit verbreitet. Die allgemeine Verzweiflung schlägt sich in der Selbstmordrate bei jungen Männern nieder: der höchsten in Europa. McArevey will dagegensteuern. Sein Instrument ist die Philosophie.
Der Dokumentarfilm „Die kleinen Schüler Platos“ folgt dem unkonventionellen Lehrer dabei, wie er mit seinem Team einer Gruppe Kindern das philosophische Denken nahebringt. Sie sollen das weitverbreitete Feindbild brutaler Protestanten, die ihre Zukunft zerstören wollen, infrage stellen. Wie sein Vorbild, der altgriechische Philosoph Sokrates, versucht McArevey, die Kinder durch die Methode des sokratischen Dialogs – auch Hebammenkunst genannt – herauszufordern. Anstatt durch Belehrung soll das Gegenüber dabei durch gezieltes Fragen selbst Einsichten gewinnen und erkennen, wenn es Denkfehler begangen hat. In dem Konzept, das McArevey für seine Schule entwickelt hat, ist der Philosophie-Unterricht genauso wichtig wie die Fächer Mathematik oder Englisch. „Was würde Seneca jetzt tun?“, fragt der Lehrer die Schüler, wenn sie auf dem Schulhof geflucht oder sich geprügelt und respektlos verhalten haben, und zitiert aus dem Werk des römischen Stoikers über Wut: „Ihr sollt abwarten, Ruhe finden und Abstand gewinnen.“ Die Kinder üben sich in der Kontrolle ihrer Gefühle, in innerer Distanz gegenüber Konflikten, im Warten, in Gelassenheit und dem Infragestellen vorgegebener Welterklärungen. Dies führt bisweilen dazu, dass sie die gesellschaftlichen Spannungen in Nordirland, die Prügeleien und die Blockbildung in ihrem Viertel nicht länger als gegeben hinnehmen wollen – oft zum Missfallen ihrer Eltern.
Die Kraft des Zweifels
In geringerem Ausmaß spiegeln sich auch an deutschen Schulen gesellschaftliche Konflikte, und religiöse Symbole werden oftmals zum Zankapfel. Man denke an den Streit über Kruzifixe in bayerischen Klassenräumen oder islamische Gebetsrituale auf Schulhöfen. Umstrittene Interventionen wie das im Januar in Berlin-Neukölln gestartete Pilotprojekt zur Untersuchung „konfrontativer Religionsbekundung“, das sogenanntes Religionsmobbing unter andersgläubigen Schülern eindämmen soll, führen zu hitzigen Debatten. Aus diesem Grund wird bundesweit die Möglichkeit diskutiert, anstelle von Religionsunterricht verstärkt auf konfessionsübergreifenden Ethik- oder Philosophieunterricht zu setzen. Gerade in einer Gesellschaft, die zum einen religiös und kulturell vielfältiger, zum anderen säkularer geworden ist, könnte dies eine zeitgemäße und konfliktvermeidende Alternative sein, sagen die Befürworter. Kann die Philosophie tatsächlich eine vermittelnde Rolle einnehmen? An McAreveys Schule funktioniert dieser Ansatz, der das Erlernen von eigenständigem Denken und Sprechen zum Ziel hat, ohne weltanschaulichen Einfluss nehmen zu wollen.
„Zweifelt alles an, was ihr hört“, gibt der Lehrer seinen Schülern mit und meint damit auch die Abwertungen und Aufrufe zur Gewalt gegen Andersdenkende, die in vielen
ihrer Familien seit Generationen weitergegeben werden. Besonders seit dem Brexit-Referendum 2016 und den wirtschaftlichen Folgen des britischen EU-Austritts für Nordirland wird die Erzählung einer jahrhundertealten Feindschaft wieder angefacht. In dieser Situation gibt McAreveys Unterricht den Kindern Hoffnung – indem er Fragen stellt. Er orientiert sich dabei an drei Grundregeln, die bereits der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant formulierte: „Selbstdenken! An der Stelle jedes andern denken! Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken!“
Ist Ihnen aufgefallen, wie sehr sich ihr Denken verändert hat?