Die Geschichte von Misha Defonseca wirkt so unfassbar wie viele Geschichten von Holocaust-Überlebenden. Das Problem: Sie ist komplett erfunden. Anfang der 1990er Jahre erzählt die Belgierin in einer Synagoge bei Millis, einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Massachussets, zum ersten Mal von ihrer Kindheit: Nachdem ihre jüdischen Eltern 1941 von den Nazis deportiert wurden, behauptet Defonseca, kam sie als siebenjähriges Mädchen in die Obhut einer katholischen Pflegefamilie. Ihre Eltern, habe man ihr gesagt, seien irgendwo im Osten. Also habe sie sich zu Fuß auf den Weg gemacht: Hunderte Kilometer durch durch Nazi-Deutschland bis ins besetzte Polen. Sie versteckte sich im Dickicht der Wälder, aß Beeren und Früchte oder stahl nachts bei Bauern. Als wäre dies nicht erstaunlich genug, trifft sie auf ein Rudel Wölfe, die sie auf ihrem Weg begleiten.
„Ich war die Erste, die kam und sagte: Können wir das nicht veröffentlichen?“, erinnert sich die US-amerikanische Verlegerin Jane Daniel in dem Dokumentarfilm „Misha und die Wölfe“, den ARTE im November zeigt. Darin kommen erstmals die zahlreichen Akteure zu Wort, die an der Verbreitung von Defonsecas vermeintlichen Holocaust-Erinnerungen mitgewirkt haben. Zunächst zögert Defonseca, doch schließlich willigt sie ein. Für ihren Sohn – und für die jüdische Gemeinde, wie sie später betont. 1997 erscheint ihre angebliche Autobiografie „Überleben unter Wölfen“ in dem von Jane Daniel gegründeten Kleinverlag Mount Ivy Press – und wird zum Welterfolg. Das Buch wird in 20 Sprachen übersetzt, Oprah Winfrey lädt die Autorin in ihren „Book Club“ ein, Walt Disney will die Filmrechte erwerben.
Misha Defonseca – vermeintlich Opfer und Heldin zugleich – reist durch Europa und die USA, spricht als Zeitzeugin vor Schulklassen und in Fernsehshows. 2007 wird ihre Geschichte von der französischen Regisseurin Véra Belmont verfilmt.
Auf den Höhepunkt des Erfolges folgt der große Knall – Defonsecas vorgebliche Autobiografie erweist sich als Fälschung. Die Lügen werden offenbar, als Forscher keinen Nachweis für Defonsecas Familie in Schoah-Archiven finden können. Misha Defonseca, die in Wirklichkeit Monique De Wael heißt, hat sich ihre jüdische Identität ausgedacht. Zwar wurden ihre im belgischen Widerstand kämpfenden Eltern 1941 von der Gestapo verhaftet. Jedoch enden hier die Parallelen zwischen der erfundenen Misha Defonseca und der echten Monique De Wael. Letztere war weder von Belgien bis Polen gelaufen noch hatte sie Freundschaft mit Wölfen geschlossen. „Es ist nicht die Realität“, räumt De Wael 2008 in der belgischen Zeitung Le Soir ein, „aber es ist meine Realität. Meine Art des Überlebens.“
Verdacht auf „Schoah-Business“
Die Öffentlichkeit reagiert entsetzt auf De Waels Geständnis. Dabei hatte es von Beginn an Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit gegeben. Der deutsche Publizist Henryk M. Broder traf die angebliche Holocaust-Überlebende und ihre Verlegerin Jane Daniel 1996 zum Interview – und roch das Faule an ihrer Geschichte. Wer hier an „Schoah-Business“ denke, kommentierte er in einem Spiegel-Artikel, der läge mit seinem Verdacht vermutlich nicht falsch. „Es gab und gibt eine ganze Reihe ähnlich gelagerter Fälle“, sagt Julius H. Schoeps, Gründungsdirektor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Der Historiker erinnert an den Fall Binjamin Wilkomirski alias Bruno Dösseker, dessen angebliche Autobiografie „Bruchstücke“ 1995 im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp erschien. Ein jüngeres Beispiel sei die Bloggerin Marie Sophie Hingst, die sich kunstvoll eine jüdische Familiengeschichte zusammenfantasiert hatte. Hingst, die nach der Enthüllung des Betrugs durch den Spiegel 2019 Suizid beging, wurden nach ihrem Tod schwere psychische Probleme attestiert.
Doch selbst wenn zahlreiche Verfasser erfundener jüdischer Verfolgten-Biografien seelische Leiden hätten, greift diese Erklärung für Schoeps zu kurz: Das chronische „Opfer-sein-Wollen“ und der fruchtbare Boden, auf den die Lügen fallen, spiegeln aus seiner Sicht die andauernde Anomalität im Verhältnis von Nichtjuden und Juden. Das sei gefährlich: „Es rüttelt an dem Allerheiligsten, nämlich an der Zeugenschaft, an der glaubwürdigen Erinnerung von Schoah-Überlebenden.“
Um diese Erinnerung zu wahren, arbeitete der Regisseur Sam Hobkinson für seinen Dokumentarfilm über die erfundenen Memoiren mit der 1937 in Wien geborenen Jüdin Evelyne Haendel zusammen. Haendel, die den Holocaust als eines von vielen sogenannten Schattenkindern überlebte, half bei der investigativen Recherche im „Fall Misha“ – und teilte als eine der letzten noch lebenden Zeitzeuginnen ihre eigene Geschichte. Kurz nach den Dreharbeiten verstarb Haendel. Ihr Beitrag macht „Misha und die Wölfe“ zu einem Stück wahrhaftiger Erinnerungskultur.