Sie galten lange als Überflieger und standen sinnbildlich für alles, was die Start-up-Welt der alten, analogen Welt voraushatte: digitale Dienstleister, die Experten wie der britische Politologe Colin Crouch als Plattform- oder Gig-Ökonomie kategorisieren. Gemeint sind – oft global agierende – Unternehmen wie Uber (Personenbeförderung) oder Deliveroo (Lieferdienst), die sich lediglich als Vermittlungsplattformen für Jobs betrachten. Arbeitende werden hingegen entlohnt wie Musiker, unregelmäßig, eben von Gig zu Gig. Wie die ARTE-Dokumentation „Arbeit auf Abruf: Digitale Tagelöhner“ zeigt, überreizen immer mehr Unternehmen, die internetbasierte Dienstleistungen anbieten, das Modell der Selbstständigkeit – um Kosten zu drücken und das Arbeitsrecht zu umgehen. Im Gespräch mit dem ARTE Magazin fordert Crouch, Autor des Buchs „Gig Economy“, mehr staatliche Regulierungen.
arte magazin Herr Crouch, die Arbeitswelt ändert sich aufgrund der Digitalisierung rapide. Ist die Gig-Ökonomie ein Symptom für das Ende von streng geregelten Arbeitsverhältnissen?
Colin Crouch Ich würde nicht von einem Ende sprechen. Aber die Gig-Ökonomie ist eines von vielen Anzeichen für den Rückgang des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses. Auch Zeitarbeit, Mini-Jobs, geringfügige Beschäftigungen und befristete Anstellungen nehmen zu. Zudem sehen wir, dass in vielen Ländern die Rechte der unbefristet Festangestellten stetig abgebaut werden. Fundamentale Unsicherheit bestimmt heute fast überall auf der Welt die Situation von arbeitenden Menschen.
arte magazin Warum sind digitale Dienstleister wie Uber, Deliveroo oder Lieferando so erfolgreich?
Colin Crouch Die Unternehmen der Gig-Ökonomie setzen besonders auf den Netzwerkeffekt: Je mehr Konsumenten Teil eines Netzwerks sind, desto höher wird dessen Nutzen. Dafür braucht man offensives Marketing und exponentielles Wachstum. Gerade in der Expansionsphase, wenn eine neue Stadt erschlossen werden soll, setzen neue Dienstleister auf Lockaktionen. Beispiel Uber: Als Vermittlungsdienst zur Personenbeförderung setzt die Fima anfangs immer auf Rabatte für Kunden und hohe Löhne für Fahrer. Sobald sich innerhalb des Netzwerks eine Eigendynamik einstellt, wechselt man zu einem deutlich konservativeren Preismodell für Kunden – und drückt die Löhne.
arte magazin Wie lassen sich prekäre Arbeitsbedingungen innerhalb der Gig-Ökonomie verhindern – ohne die Jobs zu gefährden?
Colin Crouch Da helfen nur staatliche Regulierungen. Die Plattformen definieren sich selbst als ein ganz bestimmter Teil der Wirtschaft, ohne aber Verantwortung übernehmen zu wollen. Der Staat muss dagegenhalten. Zudem muss man ein sichereres Arbeitsumfeld schaffen. Die vielen Leute, die mit schweren Rucksäcken auf dem Fahrrad Essen umherfahren, leben in einer zweifelhaften Situation. Bei einem Unfall haben sie in mehrerlei Hinsicht Pech. Sie tragen den Schaden – und bekommen keine Aufträge mehr zugeteilt. Es gibt keine Verbindlichkeit.
arte magazin Manche Kritiker bezeichnen die Gig-Ökonomie sogar als Form der modernen Sklaverei.
Colin Crouch Das ist eine Übertreibung. Es ist natürlich richtig, dass manche Menschen sich in schwierigen Lebensumständen befinden und deshalb an die Arbeit gebunden sind. Aber prinzipiell kann jeder jeden Job hinschmeißen. Im Grunde ist es fast das Gegenteil von Sklaverei. Die Arbeiter sind zu frei.
arte magazin Wie optimistisch sind Sie, dass die jungen Unternehmen ihre Probleme bald lösen?
Colin Crouch Das Corona-Virus hat uns eine Menge über das Sicherheitsbedürfnis von Arbeiternehmern offenbart. Viele Menschen haben gemerkt, wie wichtig es ist, dass der Arbeitgeber sich in Krisenzeiten um einen kümmert. Ich denke, dass sich die Gig-Ökonomie mehr und mehr an normalen Arbeitsverhältnissen orientieren wird und ihren Arbeitern zu mehr Sicherheit verhelfen wird.
arte magazin Ein Pizzabote steht vor Ihrer Tür und überreicht Ihnen den Karton – geben Sie ihm Trinkgeld?
Colin Crouch Um ehrlich zu sein, habe ich so eine Dienstleistung noch nie in Anspruch genommen. Ich hole meine Pizza immer selbst ab. Aber wahrscheinlich würde ich kein Trinkgeld geben. Angebracht finde ich das bei länger andauernden Leistungen, wie zum Beispiel Taxifahrten, Restaurant- und Friseurbesuchen.