»Der nackte Körper polarisiert«

Ob privat, historisch oder politisch konnotiert – der Akt inspiriert. Er zählt zu den ältesten künstlerischen Motiven. Was sagt Nacktheit über uns? Kuratorin ­Tanja Pirsig-­Marshall über Kunst, die Haut zeigt.

Aktmalerei von einem schwarzen nackten Mann - Barkley L. Hendricks, „Family Jules: NNN (No Naked Niggahs)“, 1974
Barkley L. Hendricks, „Family Jules: NNN (No Naked Niggahs)“, 1974. Foto: Tate Images

Welche gesellschaftliche und politische Wirkung hat Nacktheit? Dieser und vielen weiteren Fragen geht die ARTE-Doku „Hüllenlos“ im Oktober nach. In der Ausstellung „Nudes“ im LWL-Museum in Münster blickt Kuratorin Tanja ­Pirsig-Marshall auf einen kulturell brisanten Teilaspekt dieses Themas: den Akt, also die Abbildung des nackten Körpers in der Kunst.

ARTE Magazin Frau Pirsig-Marshall, empfinden Sie Nacktheit als Tabu? Oder als reinen Ausdruck von Freiheit? 

TANJA PIRSIG-MARSHALL Sie steht für mich für Freiheit. Tabus sind etwas, das wir uns selbst auferlegen. Fakt ist: Der nackte Körper polarisiert und wirft gesellschaftliche Fragen auf. In der Kunst lässt sich viel auf den Akt projizieren und oft sind dabei Vorurteile im Spiel. In der Kunst des 19. Jahrhunderts wurde die Rolle des weiblichen Modells häufig mit Prostitution verglichen. Die Modelle erhielten für das Anbieten des Körpers Geld. Im 20. Jahrhundert hat sich jedoch der Blick auf den Akt, aber auch dessen Darstellung, sehr gewandelt.

Hüllenlos – Die Geschichte der Nacktheit

Geschichtsdoku

Donnerstag, 26.10. — 21.05 Uhr
bis 23.1.24 in der
Mediathek

Fotografie einer nackten schwarzen Frau mit weißem Schleier - Zanele Muholis „Thembeka I“, 2015
Zanele Muholis „Thembeka I“, 2015. Foto: The Stephenson-Gallery-Amsterdam

ARTE Magazin Was hat sich konkret verändert?

TANJA PIRSIG-MARSHALL Es gibt nicht mehr nur das eine Schönheitsideal. Man bemüht sich heute, den realistischen Körper zu zeigen, und versucht, von der Frau als Objekt wegzukommen. Kunstschaffende sind inzwischen direkter. Das Anderssein spielt eine größere Rolle; wir praktizieren mehr Diversität und Offenheit. Schon immer hat man den Akt als Spiegel der Zeit genutzt. Noch in den 1980er Jahren war die Fotografie stark auf den weißen Körper ausgerichtet. Die homoerotischen Werke von Rotimi Fani-Kayode beruhen auf seiner Identität als homosexueller schwarzer Mann. Sie spielen mit dem zum Stereotyp degradierten schwarzen Körper, der in der kulturellen Geschichte wie ein Objekt gesehen wurde. Zanele Muholi zeigt in durchdringenden Fotografien den eigenen, non-binären Körper und die Lebenswelt der schwarzen LGTBQI-Community in Südafrika. Früher hatte es oft etwas Voyeuristisches, wenn man die Akte anderer Kulturen betrachtet hat, oder es wurde rein sexualisiert gewertet. Heute gibt es einen anderen Blick.

ARTE Magazin Würden Sie sa­­gen, es gibt in der westlichen Gesellschaft wieder eine Tendenz zu mehr Prüderie?

TANJA PIRSIG-MARSHALL Viele Menschen gehen immer noch sehr verhalten und befangen mit Nacktheit um. Womöglich gehen wir gesamtgesellschaftlich betrachtet in dieser Frage sogar ein paar Schritte zurück, vor allem wenn man an die Freizügigkeit der 1968er-Bewegung denkt. Es gibt viele Hemmungen, was den Umgang mit Nacktheit betrifft. Offensichtlich wird das zum Beispiel in Schwimmbädern, wo unterschiedliche Menschen zusammenkommen. Ich habe eine Zeit lang in England gelebt, dort war es in Schwimmbädern zum Beispiel undenkbar, ohne Vorhänge zu duschen. Gleichzeitig gibt es aber auch ein wachsendes Bewusstsein für den Schutz des eigenen Körpers und die Wahrung von Grenzen. Das ist gut so und hat nichts mit Prüderie zu tun.

ARTE Magazin Was halten Sie von der sogenannten Body-­Positivity-Bewegung, die auf die Abschaffung unrealistischer und diskriminierender Schönheitsideale setzt? 

TANJA PIRSIG-MARSHALL Ich finde es gut, wenn mit Körpererfahrungen offen umgegangen wird und Körper als Projektionsfläche begriffen werden, auch für gesellschaftliche Normen und politische und ästhetische Fragestellungen. Speziell der nackte Körper fasziniert und schockiert da natürlich. Er war schon immer intim und gleichzeitig ein Politikum. Durch ihn kann man die Sicht des Menschen auf sich selbst besser nachvollziehen. Schon in der griechischen Antike gab es klassische Schönheitsdarstellungen, zum Beispiel von homoerotischen, muskulösen Körpern von Athleten. Dass wir uns heute nicht nur an idealisierten und abstrahierten Darstellungen orientieren, sondern auch an unbeschönigten Abbildern, hilft auf jeden Fall im Kampf gegen Stereotype.

Der Akt hat sich gewandelt

Tanja Pirsig-Marshall, Kuratorin
Akt von einem liegenden Mann - Sylvia Sleigh, „Paul Rosano Reclining“, 1974
­Sylvia Sleigh, „Paul Rosano Reclining“, 1974. Foto: Tate Images

ARTE Magazin Inwiefern eignen sich in diesem Kontext unbedeckte Körper besser als bekleidete?

TANJA PIRSIG-MARSHALL Nackt ist man am verletzlichsten. Hinter Kleidung kann man sich besser verstecken. Man kann durch den Akt auch den Lebenszyklus, das Altern besser nachvollziehen, wie wir in unserer Ausstellung bei den Männerkörpern von Frederic Leighton und John Coplans sehen. Durch die reelle Darstellung wird der unperfekte Körper nicht länger tabuisiert und damit wertgeschätzt.

ARTE Magazin Lange galt der männliche Blick in der Kunst als Standard. Blicken Frauen anders auf nackte Körper? 

TANJA PIRSIG-MARSHALL Frauen besitzen ein anderes Bewusstsein für den Körper. Sie haben einen direkten, schonungslosen Blick. Ich denke an Alice Neel oder Gwen John, die Körper sehr realistisch und verletzlich wiedergeben. Gerade Neel stellt wirklich jeden unvorteilhaften Winkel, jede Hautfalte dar. Bei männlichen Vertretern sehen wir das nicht in dieser Direktheit. Paula Modersohn-Becker beschäftigt sich mit monumentalen körperlichen Veränderungen wie Schwangerschaft und Geburt – was später auch Rineke Dijkstras in ihren großformatigen Fotografien thematisiert. Sylvia Sleigh ging nach Amerika und bekam die Anfänge der feministischen Bewegung mit. Auch Gwen John befreite sich aus dem Schatten Auguste Rodins und schuf ein sehr selbstbewusstes Werk. Die Guerilla Girls fragen 1989 künstlerisch: Müssen Frauen nackt sein, um in das Metropolitan Museum zu kommen? Das sorgte damals für Furore.

 

Zur Person:
Tanja Pirsig-Marshall, Kuratorin
Die Kunsthistorikerin kuratiert die Ausstellung „Nudes“, die ab dem 10. November im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster in Koopera­tion mit der Tate Modern in London läuft.