Man kann in Wien eine Sünde begehen, die anderswo nicht zählt: Wer einen Walzer ablehnt, schlägt sich auf die falsche Seite. Tanzen ist immer gottgefällig, selbst wenn es Gott vielleicht gar nicht gibt. In Otto Premingers Film „Der Kardinal“ (1963) kommt ein ehemaliger Priester in die Verlegenheit, dass er im falschen Moment zum Tanzen aufgefordert wird. Er ist noch zu sehr seinem früheren Amt verhaftet, ihm fehlt die Leichtigkeit für den Dreivierteltakt. Mit der Leichtigkeit ist es dann aber ohnehin bald vorbei, denn der Nationalsozialismus stellt auch die katholische Kirche vor die allerschwersten Gewissensfragen. Davon erzählt „Der Kardinal“ in einem großen historischen Panorama. Dass ausgerechnet dieser Schinken von dem österreichischen Hollywood-Regisseur Otto Preminger in Frederick Bakers Dokumentation über „Cinema Austria: Die ersten 112 Jahre“ auftaucht, mag auf den ersten Blick überraschen. Es ist dann aber gerade die Szene mit dem Walzer, die mehrfach Sinn macht. Österreich ist ein kleines Land, das von großen Klischees ganz gut lebt. Die Wiener Musik ist eines der bekanntesten, und Preminger, der 1935 nach Amerika ins Exil ging, wusste gerade durch seinen Blick von außen auf die eigene Heimat von der Macht dieser Klischees.
Auch die Filmemacher, die heute als die bekanntesten Vertreter Österreichs gelten, kommen um diese Macht nicht herum. Michael Haneke zum Beispiel hat längst Weltgeltung, arbeitet mit internationalen Schauspielern und hat einen Oscar gewonnen. Wenn man nach einem gemeinsamen Nenner in seinem Werk suchen würde, könnte man aber gut auf eine bekannte Formel über Österreich zurückgreifen: von einer „Versuchsstation des Weltuntergangs“ hat Karl Kraus gesprochen. Auch Ulrich Seidl, bei dem es schon einmal vorkommt, dass für eine jämmerliche Sadomasoszene wie in seinem Film „Hundstage“ (2002) die österreichische Bundeshymne missbraucht wird, kennt diese Versuchsstation gut. Im Schlepptau dieser beiden höchst erfolgreichen Stars des heutigen Weltkinos aber sind in den letzten Jahren zahlreiche weitere Filmemacher aus Österreich bekannt geworden, sodass man gelegentlich fast von einem Filmwunder im Land an der Donau spricht: Jessica Hausner, Barbara Albert, Nikolaus Geyrhalter oder der 2014 früh verstorbene Michael Glawogger wären zu nennen.
Zwischen Weltuntergang und Walzerzwang
Bei den Filmfestspielen von Cannes ist Österreich auch meist gut vertreten und es ist sicher keine Koketterie, wenn Michael Haneke immer wieder betont, dass die zwei Goldenen Palmen – für „Das weiße Band“ (2009) und „Liebe“ (2012) – ihm wichtiger sind als der Oscar. Das hat wiederum mit einem Klischee zu tun: In Österreich zählt im Zweifelsfall die Kunst ein bisschen mehr als das Geschäft. Und wie immer steckt da auch ein Körnchen Wahrheit drin. Aber gibt es tatsächlich Besonderheiten, die so unterschiedliche Filme wie die Historiendramen „Amour Fou“ (2014) von Jessica Hausner und „Licht“ (2017) von Barbara Albert, das Zivilisationspanorama „Homo Sapiens“ (2016) von Nikolaus Geyrhalter oder den Weltreisefilm „Untitled“ (2017) von Michael Glawogger verbinden? Ein pointiertes Schlagwort lautet: Österreich versteht sich auf Feel-bad-Movies, also auf das Gegenteil dessen, was der Markt angeblich verlangt. Aber auch die angeblichen Schlechtfühl-Filme sind häufig ganz schön erfolgreich. Hinter dem Label lässt sich tatsächlich so etwas wie eine gemeinsame Weltsicht ausmachen: Künstlerinnen und Künstler aus Österreich sind durch die stark aus dem Barock inspirierte nationale Grundgeisteshaltung daran gewöhnt, das Leben unter dem Blickwinkel der Ewigkeit zu betrachten. Einfacher gesagt: Der Tod wird immer mitgedacht. In Wien wird man gleichsam von selbst zum Existenzialisten – kein Wunder, dass Michael Haneke in Paris eine zweite Heimat gefunden hat. Wenn ein Existenzialist von „Happy End“ spricht, wie Haneke in seinem letzten, gleichnamigen Film, dann steht das Happy im Zeichen des Endes. Naturgemäß, würde Thomas Bernhard sagen.
Frederick Bakers Dokumentation hat das Verdienst, dass sie nicht nur die Gegenwart in den Blick nimmt, sondern tatsächlich eine Schneise durch die ganze österreichische Filmgeschichte schlägt: von dem frühen Blockbuster „Sodom und Gomorrha“ (1922) des Regisseurs Michael Curtiz über die zwiespältigen Rollen der großen Burgtheater-Ikone Paula Wessely bis zu dem Kinodebüt von Christoph Waltz in dem kleinen Autorenfilm „Kopfstand“ (1981). Heute ist Österreich ein modernes Land, das mit seinen übermächtigen Traditionen sehr kreativ umgeht. Zwischen Weltuntergang und Walzerzwang nimmt sich das Kino dort die Freiheit, nach Lust und Laune und oft sehr intellektuell die Sündenregister der Gegenwart immer auf dem neuesten Stand zu halten.