Leider gibt es zu solchen Themen nie belastbare Umfragen, aber wir vermuten einfach mal stark: Im Frühjahr 1998, als „Titanic“ in den Kinos lief und lief, bis allein in Deutschland 18 Millionen Tickets verkauft waren, hätten sicher nur wenige geglaubt, dass der Schauspieler Leonardo DiCaprio im Jahr 2021 noch immer ein so grandioses Thema sein würde. Mehr noch: eine der weltberühmtesten, künstlerisch maßgeblichsten, zudem teuersten Persönlichkeiten Hollywoods. DiCaprio, damals 23, wirkte bei allem Talent doch mehr wie ein typisches Produkt aus der Jugendschiene des Popsenders MTV. Wie einer, dessen Babyspeck ihm letztendlich den Zugang zu den echt großen Rollen verwehren könnte. Der unweigerlich aus dem Rampenlicht sinken würde wie der Leadsänger einer Boygroup, sobald das Publikum die Kinderzimmer Richtung Universität verlässt. Aber es lief besser für Leonardo DiCaprio, viel besser.
Und vielleicht hatte das ja gerade mit der Jugendlichkeit zu tun, die er zu Beginn der Karriere ausstrahlte. „Die Menschen sind mit ihm aufgewachsen, er ist ein Teil ihres Lebens“, sagt zum Beispiel der schottische Regisseur Michael Caton-Jones, der schon 1993 mit DiCaprio arbeitete, in der neuen Dokumentation „Leonardo DiCaprio: Most Wanted!“, die die deutsche Regisseurin Henrike Sandner gedreht hat. „Ich glaube, die Männer mochten ihn, weil er ein korrekter Typ zu sein schien, und die Frauen, weil er hübsch war.“ Über die zweite Hälfte von Caton-Jones’ Analyse kann man streiten, die erste klingt glaubhaft. Egal, wie alt man als Zuschauerin oder Zuschauer war, man konnte Leo knapp drei Jahrzehnte lang beim Erwachsenwerden begleiten, im Kino und Fernsehen. Und dabei immer wieder auch interessante Dinge übers Vorankommen im Leben von ihm lernen. Selten aus seinen Fehlern, öfter aus seinen Figuren und Charakterspielen, seinen Karriereentscheidungen. Was genau? Neun Lektionen haben wir einmal festgehalten.
1. Klettere auf den Turm, auch wenn du nicht weißt, wie du wieder runterkommst.
„Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa“, 1993
Für viele war dieser Film die erste Bekanntschaft mit DiCaprio. In Lasse Hallströms malerischem, bitterem Provinzdrama spielte er die schwierige Rolle des geistig behinderten Arnie. Der Jungstar, beim Dreh erst 18, wurde später vor allem für die hohe Kunst gelobt, mit der er den Charakter so lebensnah traf, und bekam eine Oscar-Nominierung. Dabei lag der wahre Verdienst in einem ganz anderen Punkt: DiCaprio stellte die Sorglosigkeit und das Instinktvertrauen der Figur Arnie als etwas so Alltagstaugliches dar, dass man ihm sofort selbst nacheifern wollte. Auch wenn der Held im Film mehrfach von einem Wasserturm heruntergerettet werden muss, an dem er hochklettert, ohne sich den Weg zurück zum Boden zuzutrauen. Den besseren Überblick hatte er trotzdem von da oben.
Ich bin in Hollywood geboren und aufgewachsen. Sonst wäre ich nicht Schauspieler
2. Man kann Hawaiihemden auch mit Stil tragen.
„William Shakespeares Romeo & Julia“, 1996
Wer älter als 17 war, als diese Shakespeare-Verfilmung des Australiers Baz Luhrmann in die Kinos kam, dürfte noch heute eher überrascht bis verstört vor ihrem Welterfolg stehen. Als Titelstar tänzelte Leonardo DiCaprio natürlich mit größter Leichtigkeit durch diese Großinszenierung, die wie ein knapp zweistündiger Fashion-Werbespot aussah und seinen Ruf als Charakterschönling und Teenageridol endgültig festklopfte. Besonders beeindruckend sind im Rückblick allerdings die Minuten, in denen er ein kurzärmeliges Hawaiihemd trägt, also gleich zwei Modesünden auf einmal begeht – und trotzdem eine blendende Figur macht. Normalverbrauchern nützt es wenig, aber es bleibt ein großartiges Exempel.
3. Das Offensichtlichste ist manchmal die richtige Wahl.
„Titanic“, 1997
DiCaprios ikonischster, erfolgreichster Film ist bis heute über alle Zweifel erhaben. So kurz nach „Romeo & Julia“ hatte der Star jedoch Bedenken: Er hatte Angst, mit der Rolle des Seepassagiers und Liebhabers Jack Dawson könne er sich zu nachhaltig im Schnullerbacken-Fach verheddern. Matthew McConaughey war die vom Studio favorisierte Alternative, aber Kate Winslet wollte unbedingt mit DiCaprio spielen. Beim Festival in Cannes soll sie an seine Hotelzimmertür geklopft haben, um ihn zum Mitmachen bei „Titanic“ zu überreden. Glücklicherweise mit Erfolg. Surferboy McConaughey hätte sich in der berühmten Wasserszene bestimmt irgendwie auf die schwimmende Tür geschwungen, wäre nicht ertrunken und hätte damit den Schluss torpediert.
4. Du musst nicht alles erst lernen, was du tun willst.
„Catch Me If You Can“, 2002
Es muss keine boshafte Absicht dabei sein, wenn man hier Parallelen zwischen Fantasie und Wirklichkeit sieht: In Steven Spielbergs Neo-Screwball-Komödie spielte Leonardo DiCaprio einen Hochstapler, der sich ohne jedes Diplom als Anwalt, Arzt und Pilot durchmogelt. Den souveränen Gestus, mit dem er die Beteiligten so bezirzt, dass sie keine Fragen stellen, hat der Schauspieler im echten Leben selbst ausgiebig geübt. Auch er sah nie eine Schauspielschule von innen, begann als Teenager mit Werbespots für Kaugummi und Scheibenkäse, spielte 1989 in einer Fortsetzung der „Lassie“-Serie mit, dann in der Sitcom „Eine Wahnsinnsfamilie“. DiCaprio machte nicht mal die Highschool zu Ende, weil die Karriere so gut lief. Nach Zeugnissen fragte ihn nie wieder jemand.
5. Wenn du keine Familie hast, such dir eine.
„Departed – Unter Feinden“, 2006
Man startet als Eindringling, wird dann Teil des engen sozialen Gefüges. So macht es der Polizist Billy Costigan, den DiCaprio hier spielt und der sich als zerzauster, von Panikattacken gebeutelter Undercoveragent in die irische Mafia Bostons einschleicht. Zu Regisseur Martin Scorsese pflegte er zu der Zeit schon eine innige Beziehung: Von den sechs Filmen, die Scorsese zwischen 2002 und 2013 drehte, war DiCaprio in fünf Fällen dabei, spätestens jetzt losgelöst vom „Titanic“-Fluch. In der Tat hat DiCaprio bis heute in keiner Comicverfilmung oder Fortsetzungs-Franchise mitgewirkt, wurde zum Quasi-Familienmitglied und Inspirator großer Regisseure wie Alejandro González Iñárritu, Clint Eastwood oder Quentin Tarantino. Der Lohn der Geduld.
6. Man sollte sich öfter mal fragen, ob man gerade träumt.
„Inception“, 2010
Noch ein Hollywood-Künstler, mit dem DiCaprio im besten Moment zusammenkam: Christopher Nolan machte ihn hier zum Anführer einer schattenhaften Eingreiftruppe, die in Träume fremder Menschen eindringt und ihre Gedanken manipuliert. Manche fanden diesen Film zu cool und mathematisch, ausgerechnet DiCaprio schenkte ihm sein pochendes, blutendes Herz. Die still ertragene Tragödie um die verstorbene Ehefrau seiner Figur, die in „Inception“ immer wieder aufblitzt, erinnert entfernt daran, dass aus dem Leo-Privatleben nicht wahnsinnig viel bekannt ist. Gisele Bündchen, Bar Refaeli, Toni Garrn, Camila Morrone, mehr als eine Handvoll Namen haben wir nicht.
7. Wer dich stresst, ist nicht unbedingt dein Feind.
„The Revenant – Der Rückkehrer“, 2015
Die große Mutprobe, der ultimative Stresstest, durch den Regisseur Iñárritu seinen Star für diese Trapper-Saga schickte. Draußen im kanadischen Winter aß DiCaprio beim Survivaldreh eine echte Bisonleber, zog sich Unterkühlungen zu, schoss mit der Pulverbüchse, machte Lagerfeuer. Musste der Crew vertrauen, obwohl die Geschichte von „The Revenant“ gerade davon handelt, wie Menschen auch ihre Freunde hintergehen. Am Ende bekam er ausgerechnet für den Mega-Bodycheck seinen bisher einzigen Oscar. Er musste ihn sich verdienen.
8. Es gibt wichtigere Themen als dich selbst.
„Ice On Fire“, 2019
Als kleiner Junge wollte Leonardo DiCaprio eigentlich Meeresbiologe werden. Dieses Interesse äußerte sich wieder, als er 1998 eine Stiftung für Klimaschutz gründete und in der Folge dann immer entschiedener als Aufklärer und Aktivist in Erscheinung trat. Für seinen Privatjet wurde er oft genug kritisiert, sein Engagement wirkt deswegen nicht weniger glaubwürdig und kompetent. Die Arktis-Doku „Ice On Fire“ produzierte seine Firma Appian Way, und anstatt selbst vor der Kamera übers schmelzende Eis zu wandeln, überließ er das den Experten – und ist selbst nur als Erzähler aus dem Off zu hören. Wenn Popularität Verantwortung bedeutet, jongliert er sie überaus gekonnt und mit bestem Instinkt.
9. Hollywood ist immer für eine Überraschung gut.
„Once Upon A Time in Hollywood“, 2019
Leonardo DiCaprios Hit von 2019, der wegen der Pandemie auch sein bislang letzter Kinostart war, gehört zu den Höhepunkten seiner Karriere. Quentin Tarantino inszenierte ihn als sein eigenes Boulevard-Zerrbild, den heruntergekommenen Altstar, der dank der Wunder Hollywoods noch einmal aus der Asche steigt – und dass DiCaprio mit seinen heute 46 Jahren noch viel Großes vor sich hat, wird niemand ernsthaft bezweifeln. Womöglich sehen wir ihn bald sogar auf Netflix, in einem Film von Adam McKay, obwohl er sich vom Fernsehen in den letzten 30 Jahren weitgehend ferngehalten hat. James Dean, hat DiCaprio einmal gesagt, sei der erste Schauspieler gewesen, der ihn richtig beeindruckt habe. Eine tragische Figur wie Dean wird er sicher nicht mehr werden. Legende und Sinnbild für eine große Popkulturphase ist er aber schon zu Lebzeiten.