Die Geschichte des Massenaussterbens von Arten reicht weit zurück, fast 450 Millionen Jahre. Am Ende des Erdzeitalters Ordovizium erlosch ein Großteil des Lebens, das sich im Laufe von rund 100 Millionen Jahren erstmals in solcher Vielfalt herausgebildet hatte. Eine zu Ende gehende lange tropisch-heiße Periode, Kontinentalverschiebungen und trockenfallende Ozeane ließen vielen Urzeit-Spezies keine Chance, darunter Weich- und Wirbeltieren, Kopf- und Gliederfüßlern sowie käferförmigen Kleinstlebewesen. In kaum vorstellbaren geologischen Zeiträumen wiederholte sich das massenhafte Aussterben von Tieren und Pflanzen seither vier weitere Male, zuletzt vor 66 Millionen Jahren, am Übergang der Kreidezeit zum Paläogen. Für diesen bis dato letzten Weltuntergang ist der Auslöser recht gut erforscht: ein Asteroid mit gut 17 Kilometern Durchmesser, der vor der mexikanischen Halbinsel Yucatán einschlug. Deswegen und weil in der Folge unter anderem die bis heute populären Dinosaurier verschwanden, scheint es beinahe so, als seien wir schon Zeugen dieser planetaren Katastrophe gewesen. Tatsächlich sind wir es jetzt. Denn erneut vollzieht sich ein Massenaussterben, in kürzester Zeit und menschengemacht. „Wir zerstören unsere eigene Zukunft und die unserer Kinder“, mahnt die Grande Dame der Primatenforschung, Jane Goodall, im ARTE-Dokumentarfilm „Arten retten – Gegen das große Verschwinden“. Die mittlerweile 86-Jährige engagiert sich seit mehr als einem halben Jahrhundert für den Erhalt von Ökosystemen. Und kämpft mit leiser, aber energischer Stimme gegen den menschlichen Unverstand: „Es ist tragisch, dass wir glauben, wir würden losgelöst von der Natur existieren. Natürlich sind wir Teil des Ganzen und abhängig von der Natur. Wir sind nur eine von vielen Arten auf der Erde.“ Allen Warnungen von Wissenschaftlern und Naturschützern zum Trotz hat sich die Situation zuletzt nicht verbessert. Im Gegenteil, die Zahlen sind dramatisch: Eine Million Tier- und Pflanzenarten sind bis zum Ende des Jahrhunderts vom Aussterben bedroht, rechnete der Weltbiodiversitätsrat IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) in einem 2019 veröffentlichten Bericht vor. Die UN-Organisation mit dem sperrigen Namen stellt diesen globalen Vernichtungsfeldzug als Risiko für die Menschheit selbst auf eine Stufe mit dem Klimawandel.
Der Mensch entscheidet über Evolution Die Gründe für den immensen Verlust an Biodiversität sind vielfältig. „Es ist die Gesamtheit unserer Aktivitäten, die Ausbeutung der Natur, das Produktions- und Konsumverhalten, unser Fortbewegungsverhalten und die Expansion“, zählt die französische Meeresökologin Yunne Shin im ARTE-Dokumentarfilm auf. Die Forscherin, die auch den IPBES berät, dringt auf sofortiges Handeln. Jedes weitere vertane Jahrzehnt vergrößere das Problem. Allein um eine Artenvielfalt wiederherzustellen, wie sie noch Anfang des 20. Jahrhunderts existierte, „bräuchten wir Millionen von Jahren“, sagt Shin. Schon fünf Jahre vor dem aufsehenerregenden Bericht des IPBES beunruhigte die US-amerikanische Wissenschaftsjournalistin Elizabeth Kolbert ihre Leser mit der Botschaft, der Mensch entscheide, „ohne es unbedingt zu wollen“, als erstes Lebewesen auf Erden darüber, „welche Evolutionswege offen bleiben und welche für immer geschlossen werden“. Der Titel ihres mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Bestsellers „The Sixth Extinction“ – auf Deutsch: „Das sechste Sterben“ – ordnet die menschengemachte Apokalypse in eine entwicklungsgeschichtliche Reihe ein. Bloß, dass sich alle vorangegangenen Massenaussterben über Hunderttausende oder sogar Millionen von Jahren hinzogen. Jetzt aber ist es, als erlebten wir Erdgeschichte wie in einem aberwitzig schnellen Zeitraffer. Kolbert zeichnet in dem Buch auch den verblüffend kurzen Weg nach von der Erkenntnis, dass Arten aussterben, bis zum heutigen Erschrecken, es könne für manche Rettung zu spät sein. Denn erst am Ende des 18. Jahrhunderts formulierte der Pariser Naturforscher Baron Georges Cuvier die für seine Zeitgenossen ungeheuerliche Idee einer untergegangenen Welt vor der damals gegenwärtigen. Weil ein paar Knochenfunde nicht zu den bekannten Elefantenarten in Afrika und Asien passten. Dann kam Charles Darwin mit seiner Evolutionstheorie. Und nun, keine 200 Jahre später, setzt der Mensch deren Gesetzmäßigkeiten außer Kraft wie vor ihm nur kosmische oder geologische Ereignisse. Einen Namen hat das Zeitalter unserer unbegrenzten Zerstörungsmöglichkeiten auch schon: Anthropozän. Rund um den Erdball aber stemmen sich Wissenschaftler und engagierte Artenschützer gegen die vermeintliche Unumkehrbarkeit. Sie siedeln Ameisenvölker in brandenburgischen Wäldern um, damit die Insekten sicher vor Bautätigkeiten sind. Sie ziehen Orang-Utans auf Borneo wie eigene Kinder auf, um sie eines Tages in den Dschungel auszuwildern. Und sie schützen die letzten beiden Nördlichen Breitmaulnashörner in Kenia vor Wilderern, die für Horn töten – Tiere wie Menschen. „Wenn es um die Erde geht, ist Optimismus Pflicht, allein schon wegen fehlender Alternativen“, schreiben die Wissenschaftsjournalisten Dirk Steffens und Fritz Habekuß in ihrem Buch „Über Leben“. Der Untertitel „Zukunftsfrage Artensterben: Wie wir die Ökokrise überwinden“ ist Programm. Sie fordern einklagbare Rechte für die Natur, zum Beispiel für einen verseuchten Fluss. Zudem sollten nicht länger Unternehmensgewinne, sondern die Ausbeutung von Ressourcen besteuert werden. In Anspruch genommene Ökosystemleistungen dürften nicht kostenlos bleiben. Was kostete wohl ein Kleinwagen, wenn sämtliche Umweltbelastungen, die von der Rohstoffgewinnung bis zur Fahrzeugmontage entstehen, beziffert und in seinen Preis einkalkuliert werden? „Ein Vermögen“, schreiben Steffens und Habekuß.
Es ist tragisch, dass wir glauben, wir würden losgelöst von der Natur existieren.
Mehr Ökokapitalismus wagen
Hoffnung setzt das Duo in die – unter gesellschaftlichem Druck erzeugte – Annäherung der Finanzbranche an den Umweltschutz. Veränderung sei möglich, wenn es etwa für große Fondsgesellschaften profitabler wird, ihre Milliarden und Abermilliarden in grüne nachhaltige Investments zu stecken – statt damit weiterhin fossile Energien als Klimakiller oder das Abholzen von Regenwäldern für noch mehr Palmölplantagen und Sojaanbau zu finanzieren. „Mehr Ökokapitalismus wagen“, lautet das Postulat der Autoren. Seit 30 Jahren reist Dirk Steffens für Fernsehbeiträge um die Welt. Er sei dabei zum „Augenzeugen des globalen Wandels“ geworden, sagt er im Gespräch mit dem ARTE Magazin. „So viele Orte, die ich als Naturparadiese in Erinnerung hatte, waren beim nächsten Besuch ausgebeutet und zerstört.“ Gemeinsam mit seiner Frau hat der Journalist vor drei Jahren die Biodiversity Foundation gegründet. Mit der Kampagne „#6 Fighting Extinction“ kämpft die Stiftung unter anderem für eine Verankerung des Artenschutzes im Grundgesetz. Mehr als 110.000 Menschen unterstützten im vergangenen Jahr eine Online-Petition an den Bundestag. Ein erster Schritt im Angesicht einer „Menschheitsaufgabe, wie es sie wohl noch nie gegeben hat“, so Steffens. „Die großen game changer aus Politik und Wirtschaft müssen mitmachen, sonst schaffen wir es nicht.“ Wie schwer sich allein die internationalen politischen Akteure mit einem geschlossenen und entschiedenen Vorgehen beim Artenschutz tun, zeigte erst Ende September der coronabedingt virtuell abgehaltene UN-Biodiversitätsgipfel. Statt einer gemeinsamen Abschlussdeklaration gab es lediglich Absichtserklärungen einzelner Staaten. Da half auch ein flammender Appell des 94-jährigen britischen Tierforschers und -filmers David Attenborough im Vorfeld nichts, der sich von den führenden Köpfen der Welt ein „starkes Signal“ gewünscht hatte. Zweifellos würde er Jane Goodall mit ihrer dramatischen Einschätzung beipflichten: „Uns bleibt ein kleines Zeitfenster – doch das schließt sich langsam. Es ist ein Aufruf zu handeln! Jeder muss jetzt seinen Teil beitragen.