Als Joachim Ringelnatz vor rund 90 Jahren sein humorvolles Gedicht „Die Ameisen“ über zwei Hamburger Insekten und deren Australien-Reisepläne schrieb, unterschätzte er die Krabbeltiere womöglich. „Bei Altona auf der Chaussee / da taten ihnen die Beine weh“, reimte Ringelnatz. Im wahren Leben aber bewältigen Ameisen nicht nur beim Zurücklegen von Entfernungen Erstaunliches und stellen damit – gemessen an ihrer millimeterkleinen Größe – körperliche Fähigkeiten von uns Menschen locker in den Schatten.
Wie vielfältig das Leben zwischen Nestern und Kolonien verläuft, zeigt die zweiteilige ARTE-Dokumentation „Im Königreich der Ameisen“. Darin geht es unterm Waldboden manchmal zu wie bei Shakespeare oder im antiken Drama: Täuschungsmanöver und Königinnenmord, geraubter Nachwuchs und Versklavung, all das gibt es im Ameisenreich.
Rekordverdächtige Leistungen, etwa bei Futtersuche und -transport, beschrieb schon vor Jahrzehnten der deutsche Biologe Bert Hölldobler. So rennen die Tiere nach menschlichen Maßstäben täglich Marathonstrecken im Tempo von Spitzenläufern – und balancieren dabei Lasten mit einem Vielfachen ihres Körpergewichts. Hölldoblers gemeinsam mit seinem US-amerikanischen Kollegen Edward O. Wilson verfasstes Standardardwerk über Ameisen („The Ants“) wurde 1991 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Mit ihren Mundwerkzeugen, den Mandibeln, beeindrucken Ameisen nicht nur, wenn sie mit herkulischen Kräften schwere Blattstücke und Beutetiere allein oder im Kollektiv über weite Strecken stemmen. Auch die Schnellkraft der Scherengebilde taugt für einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde. Ein Forscherteam aus Illinois fand vor zwei Jahren heraus, dass Dracula-Ameisen ihre Schnappkiefer mit 90 Metern pro Sekunde bewegen – 5.000-mal so schnell wie ein menschlicher Wimpernschlag.
Duftspur dreimal um den Erdball
Der Verhaltensforscher und Sozialbiologe Hölldobler hat sich in Jahrzehnten ausgiebig mit dem Kommunikationsverhalten der Ameisen beschäftigt. Auch in dieser Disziplin erweisen sich die feingliedrigen Insekten als Superstars der Natur. Oder genauer: Supernasen. Ein Milligramm eines Duftstoffs, den die Tiere aus Drüsen abgeben, würde ausreichen, um dreimal um den Erdball eine Spur zu legen, der wiederum andere Ameisen dank ihrer hochempfindlichen Antennen folgen könnten. Auf diese Weise führen beispielsweise Späherinnen ihre Artgenossinnen aus dem Nest zur Nahrung.
Die Fertigkeiten und das Zusammenleben von Ameisen faszinieren Hölldobler, der bereits als kleiner Junge eine Kolonie im Kinderzimmer hielt, gleichermaßen. Nur mithilfe leistungsfähiger Kommunikationssysteme seien soziale Organisationen möglich, so der Forscher gegenüber dem ARTE Magazin. „Das heißt: Arbeitsteilung, Integration der Hunderttausenden von Individuen und die daraus entstehenden Gemeinschaftsleistungen.“ Ameisenkolonien stünden für effizientes Kooperieren in Clustern schlechthin: „Im Cluster werden Einzelne stark.“ Tatsächlich leben die Tiere in keiner der 12.500 registrierten Arten allein. Mindestens 16.000 Arten werden weltweit vermutet, in Deutschland kommen gut 100 vor.
Ameisenhaufen stehen für Ordnung im Chaos
Für Hölldobler zeigt ein Blick in das Durcheinander eines Waldameisennestes, dass die soziale Organisation der Insekten ein vortreffliches Beispiel für Ordnung im Chaos der Natur ist. Er vergleicht das mit den „milliardenfachen Interaktionen von Neuronen in unserem Gehirn“ und daraus resultierenden „Leistungen von höchster Kreativität“. Das verbinde Hirnforscher mit experimentellen Soziobiologen: „Beide erforschen die Mechanismen, die die Organisation im scheinbaren Chaos bewirken.“
Nicht nur als Forschungsobjekte, auch als Haustiere erfreuen sich Ameisen großer Popularität. Zwar finden sich bei Google mehr Einträge von Schädlingsbekämpfern. Das Hobby der Haltung in Formicarien – nach dem lateinischen formica für Ameise – aber boomt. Zumindest im deutschsprachigen Raum hat daran Martin Sebesta großen Anteil. Der Mittvierziger betreibt seit 20 Jahren den Antstore für Ameisen und Zubehör. In seinen Berliner Geschäftsräumen bauen Asiatische Weberameisen mit dem wohlklingenden zoologischen Namen Oecophylla smaragdina kunstvolle Blattnester an einer Pflanze – hinter Glas, versteht sich. Nebenan wandern Ströme von Blattschneiderameisen durch transparente Röhren zwischen ihren Futter-, Nest- und Abfallkuben hin und her.
Solche Exoten, die Sebesta von Zulieferern aus aller Welt bekommt, sind nichts für Anfänger. Bis zu 300 Arten finden sich in seinem Online-Sortiment, nicht alle sind vorrätig. Grundsätzlich gelte: „Invasive Arten bieten wir für private Halter nicht an.“ Braucht eine Forschungseinrichtung, etwa aus der Pharmazie, das Sekret einer speziellen Ameise, startet Sebesta auch schon mal eine Expeditionsreise zur Beschaffung. Der Preis einer Kolonie kann dann leicht vierstellig werden.
Im Laden verkauft oder versandt werden kleine Röhrchen mit begatteten Königinnen und einzelnen Arbeiterinnen. Die Königinnen, die bei heimischen Ameisen wie Lasius niger bis zu 30 Jahre alt werden können, tragen Spermien zur Befruchtung von Eiern für viele Generationen im Körper – der Grundstock einer neuen Kolonie. Und für die Halter spannender als jeder Krimi.