Catherine Deneuves Lebenswerk ist beeindruckend: In mehr als 140 Filmen hat die Französin mitgespielt und dabei gelang ihr im Laufe der Jahrzehnte ein grundlegender Imagewandel. Galt sie aufgrund von Filmen wie „Ekel“ (1965) von Roman Polański oder „Begierde“ (1983), in dem sie an der Seite David Bowies spielte, lange als erotische Ikone, entwickelte sich Deneuve zunehmend zu einer mütterlichen Integrationsfigur für ein vielfältiges, kompliziertes Frankreich.
Geradezu programmatisch erkennbar werden diese Aspekte an ihrer Rolle in André Téchinés „Abschied von der Nacht“, der 2019 auf der Berlinale Premiere feierte und den ARTE im Februar zeigt. Catherine Deneuve spielt Muriel, die Chefin eines Pferdehofs, der in der Idylle Südfrankreichs zwischen Meer und Pyrenäen liegt. Ihr Enkel Alex (Kacey Mottet Klein) gibt vor, nach Montreal in Kanada reisen zu wollen. Doch dann entdeckt sie ihn eines Tages draußen unter den Bäumen beim Gebet – den Teppich nach Mekka ausgerichtet. Für Muriel ist das eine Sache, die man bei einem Glas Wein besprechen könnte, doch Alex trinkt keinen Alkohol mehr. Er verschließt sich vor seiner Familie, einzig mit Lila (Oulayla Amamra), einer Gefährtin seit Kindheitstagen, teilt er seine Gedankenwelt. Schritt für Schritt lässt Alex seine wirklichen Pläne erkennbar werden: Zusammen mit Lila will er nach Syrien. Sie haben den festen Plan gefasst, sich dem Dschihad des sogenannten Islamischen Staates (IS) anzuschließen.
„Abschied von der Nacht“ spielt im Jahr 2015, in den ersten Tagen des Frühlings, in denen die Kirschblüte herrliche Landschaften zaubert. Es sind aber eben auch jene Tage, an denen der gewaltsame Aufstieg des IS Europa erschüttert. Die mörderische Terror-
organisation, die man in Frankreich Daesh nennt, hat im Irak und in Syrien ein Kalifat ausgerufen. Aus vielen europäischen Ländern, aber vor allem aus Frankreich, strömen junge Menschen in das Herrschaftsgebiet, in dem eine radikale Form des Islams als Gegenentwurf zu den liberalen Werten des Westens verwirklicht werden soll. Catherine Deneuve verkörpert im Film die Werte Europas als Mutter einer Großfamilie mit reichen und komplexen Bezügen zur jüngeren französischen Geschichte. In Andeutungen ist zu erfahren, dass sie den Krieg in Algerien miterlebt hat; ihr Mann hat Wurzeln in der ehemaligen französischen Kolonie, auch Muriel ist die arabische Welt nicht fremd. Der Vater von Alex wiederum lebt auf der Karibikinsel Guadeloupe, also in einem der vielen französischen Überseegebiete. Im Herzen der Familie klafft eine Lücke: Die Mutter von Alex – Muriels Tochter – ist bei einem Tauchunfall gestorben.
Konsequente Abwendung
Der Pferdehof gibt im Wesentlichen vor, wie man Catherine Deneuve vor allem zu sehen bekommt: In praktischen Jacken und mit festen Schuhen kümmert sie sich um Handfestes, etwa die Errichtung eines Elektrozauns gegen Wildschweine. Muriel ist eine pragmatisch veranlagte, geerdete Frau, die keine Religion braucht; ihr genügt die Verbundenheit mit der Natur und ihren Mitmenschen. Die „Verdorbenheit“ der westlichen Kultur, die ihr Enkel beklagt, sucht man bei ihr vergeblich. Doch für Alex ist das gesamte liberale Frankreich, das Frankreich der Genüsse und des von der Aufklärung geprägten Republikanismus, gewissermaßen die „Nacht“, von der er sich verabschieden will. Sein persönlicher Schmerz über den frühen Verlust seiner Mutter ist dabei sicherlich auch ein Motiv, in seiner Abwendung bleibt er konsequent. Er richtet sich auf ein zweites Leben aus, für ihn zählen nur die Versprechungen des Paradieses, von denen er bei Predigten hört, zu denen er mit Lila geht. Muriel sieht sich schließlich zu einer drastischen Intervention genötigt. Und sie findet Hilfe bei einem Rückkehrer aus dem IS-Kalifat, der auf dem Pferdehof Arbeit sucht und der immer noch im Verdacht steht, ein Extremist zu sein.
Regisseur André Téchiné („Wilde Herzen“, 1994) gehört zu den erfolgreichsten französischen Regisseuren der Generation nach der Nouvelle Vague. Wie François Truffaut, Claude Chabrol oder Jean-Luc Godard kam er über die Filmkritik zum Filmemachen und war wie jene mit der Zeitschrift „Cahiers du Cinéma“ verbunden. Seine eleganten, gefühlsbetonten Werke setzen sich mit der Komplexität von Emotionen und der Zerbrechlichkeit der menschlichen Verfassung auseinander. „Abschied von der Nacht“ blickt auf einen kritischen Moment in der jüngeren Geschichte zurück und macht deutlich, dass die Werte der Humanität sich niemals von selbst verstehen. Sie müssen aus gelebter Erfahrung kommen. Catherine Deneuve verkörpert den ganzen Reichtum dieser Werte.
Das Kino kann den fundamentalen Fragen unserer Gesellschaft Gestalt geben